Der Duft der Rose
sie jemals ins Bett gestiegen. Sie nahm zwar nicht an, dass es in den unteren Schichten anders zuging als in adeligen Kreisen - schließlich stolperte sie immer wieder über Szenen wie die neulich -, aber dennoch begab sie sich mit Nicholas Levec auf Neuland in mehr als einer Hinsicht. Sie hoffte, dass er etwas Erfahrung hatte, andererseits war das unwichtig. Solange er den Weg in ihren Körper fand und seinen Samen in ihr vergoss. Mehr wollte sie nicht von ihm, und mehr erwartete sie auch nicht.
Es war lange her, dass sie mit einem Mann das Lager geteilt hatte. Sie versuchte, bei dem Gedanken etwas Vorfreude zu empfinden, versagte aber. Diesmal ging es nicht um Lust und Leidenschaft, sondern um etwas viel Größeres. Diesmal ging es nicht um sie selbst und ihre Gefühle - Gefühle, die ohnehin längst gestorben waren.
Seufzend erhob sie sich und blieb vor einer Kleidertruhe stehen, in der sie herumzuwühlen begann. Neben der Bedingung, dass die Kleidungsstücke mehr Haut enthüllen als verhüllen sollten, musste sie die Sachen allein an- und ausziehen können. Sie wählte einen bauschigen, mit Volants besetzten Unterrock und einen einfachen scharlachroten Rock darüber. Dazu eine verspielte weiße Bluse, deren Ausschnitt sie auf die Oberarme herunterziehen konnte. Statt eines Mieders nahm sie einen breiten, in der Mitte spitz zulaufenden schwarzen Gürtel, der ihre Brüste nach oben drückte.
Während sie ihr Haar bürstete und seitlich zu einem dicken Zopf flocht, den sie mit einigen Haarnadeln auf ihrem Kopf feststeckte, blickte sie in den Spiegel und versuchte, sich mit den Augen eines Mannes zu sehen. Mit den Augen von Nicholas Levec.
Im perfekten Oval ihres Gesichts schimmerten ihre Augen unter leicht gewölbten Brauen wie Topase, und wie immer erschienen sie Ghislaine als das Bemerkenswerteste in einem sonst durchschnittlichen Antlitz. Die Nase war gerade, weder zu lang noch zu kurz. Ihr Mund wirkte zu voll, vor allem die Unterlippe, und für ihr Kinn hätte sie sich einen energischen Zug gewünscht, statt einer sanften Rundung. Ihr Hals und ihr Dekollete wiesen erfreulicherweise noch immer keine Falten auf. Die hochgepressten Brüste sahen verlockend prall aus, und wenn sie tief einatmete, schoben sich die rosigen Höfe ihrer Brustwarzen gefährlich nahe an den Rand des Ausschnitts.
Ein Mann, der diesem Anblick widerstehen konnte, war ein hoffnungsloser Fall. Erleichtert wandte sie sich ab und nahm einen dünnen Umhang, den sie über ihre Schultern legte. Ehe sie sich auf den Weg machte, gab sie Laurent Bescheid, dass sie am Abendessen nicht teilnehmen würde, und streichelte noch einmal die Fische im Zuber. Jacques rutschte auf dem Fußboden zwischen seinen Zinnsoldaten herum und winkte ihr abwesend zu. Sie schloss die Tür seiner Gemächer hinter sich und verspürte im gleichen Augenblick ein jähes Gefühl der Schwerelosigkeit. Als hätte sie unversehens eine Leine gekappt und schwebte nun losgelöst einem neuen, aufregenden Ufer entgegen, wobei sie alles andere in einem dichten Nebel zurückließ.
Übermütig sprang sie die letzten Stufen der Treppe zum Schlosshof hinunter. Für eine kleine Weile war sie frei und nur für sich selbst verantwortlich.
Das Verwalterhaus lag eine knappe halbe Stunde Fußweg vom Schloss entfernt. Zeit, in der sich Ghislaine überlegen konnte, mit welchen Worten sie Nicholas Levec ihr Erscheinen einigermaßen plausibel erklären und ihm gleichzeitig klarmachen konnte, dass diese Worte nur ein Vorwand waren.
Die Sonne stand bereits tief, als sie das Haus erreichte. Zum letzten Mal war sie nach dem Begräbnis von Louis Marceaus Frau hier gewesen. Sechs Jahre musste das wohl her sein, dachte sie und klopfte mit der Hand an die Tür. Nichts geschah. Schließlich drückte sie die Klinke und trat ein. Stille empfing sie. Die Dielen knarrten unter ihren Füßen, als sie weiterging und sich umsah. Wie sie vermutet hatte, waren die wenigen Möbel dunkel und abgenutzt. Vor den Fenstern hingen keine Vorhänge, der Tisch in der Stube war sauber, kein schmutziges Geschirr stand herum. Aber auch keine Vase mit Blumen.
Ghislaine legte ihren Umhang auf einen Stuhl. Es gab keinen Spiegel, deshalb tastete sie mit den Fingern über ihr Haar und den Ausschnitt der Bluse. Sie überlegte, ob sie sich tatsächlich in verführerischer Pose auf das mit mehrfach geflicktem Leinen bezogene Bett drapieren sollte, um dort auf Monsieur Levecs Erscheinen zu warten. Da fiel ihr Blick auf die offene
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