Der Duft der Rose
den ersten Brief. Er hatte mit Ent- und Beschuldigungen gerechnet, mit Klagen und Jammern und endlosen Beteuerungen, wie sehr sie alles bedauerte. Doch damit hatte er falschgelegen.
Ghislaine schrieb in einfachen, schnörkellosen Sätzen davon, dass sie wohl am Leben bleiben würde, auch wenn sie sich schwach fühlte und nur langsam zu Kräften kam. Die Säuglinge waren zart, tranken aber gierig, und so war zu hoffen, dass sie bald an Gewicht gewinnen würden.
Diese Mitteilung nahm nicht einmal eine halbe Seite ein, und sie sprach ihn in dem Brief kein einziges Mal direkt an. Unterzeichnet hatte sie mit einem schmucklosen Ghislaine.
Die Anspannung wich aus seinem Körper, und Nicholas nahm den nächsten Brief. Er war länger, und auch das energische Schriftbild verriet, dass es Ghislaine besser gegangen sein musste, als sie ihn verfasst hatte.
Sie berichtete, dass eine zweite Amme eingestellt worden war, da sich die Säuglinge als unersättlich erwiesen. Tagsüber lagen sie bei ihr im Bett, und Sophie zeigte ihr, wie sie die Kleinen anziehen und windeln musste. Henri verbrachte täglich ein paar Stunden bei ihr und fütterte sie mit Leckerbissen wie Gänseleberpastete und in seinem Gewächshaus gezogener Ananas. Damit würde sie in absehbarer Zeit aussehen wie eine gestopfte Gans.
Nicholas ließ den Brief sinken. Er wusste nicht, wer Sophie war, und wunderte sich, dass Ghislaine die Pflege der Säuglinge nicht an jemand anderen delegierte. Gleichzeitig wurde ihm zum ersten Mal wirklich bewusst, dass er zwei Söhne hatte. Söhne, die niemals seinen Namen tragen würden.
Im nächsten Brief stand, dass Ghislaine täglich längere Zeit außerhalb des Bettes verbrachte und die Zwillinge über Nacht alle Haare verloren hatten und wie zahnlose Greise aussahen.
Nicholas lächelte und griff nach dem vorletzten Brief. Ghislaine erzählte vom Weihnachtsfest, das auf Belletoile stattgefunden hatte und das vorwiegend aus endlosen Schlemmereien sowie einem Ball und einer Theateraufführung bestanden hatte. Eine Schneiderin hatte ihr dafür drei neue Kleider angefertigt. Gemeinsam mit Henri, Jacques, Vincent und Sophie hatte sie die Mitternachtsmette besucht.
Wieder sprach sie ihn weder direkt an, noch erkundigte sie sich nach seinem Befinden. Sie teilte ihm einfach mit, wie ihr Leben aussah, offensichtlich ohne eine Antwort zu erwarten. Und das berührte ihn tiefer, als es Bitten oder Flehen getan hätten, denn es zog ihn auf eine Weise ins Geschehen, gegen die er sich nicht wehren konnte.
Der unbeschwerte Tonfall verscheuchte seine schwarzen Gedanken, und er griff erwartungsvoll zum letzten Brief. Nach ein paar belanglosen Nebensächlichkeiten schrieb Ghislaine, dass sie nach dem Dreikönigstag zurück nach Plessis-Fertoc kommen wolle. Gemeinsam mit Jacques und den Kindern. Nicholas starrte auf die Zeilen. Natürlich würde sie zurückkommen, aber er hatte immer gedacht, dass sie damit noch warten würde - vorzugsweise so lange, bis er nicht mehr an diesem Ort war.
Sie tat es nicht, was bedeutete, dass sie eine Konfrontation suchte. Er ließ den Brief sinken und strich gedankenverloren die Ecken glatt. Kurz dachte er daran, seine Sachen zu packen und zu verschwinden.
Das hätte er längst tun sollen. Dass er es nicht getan hatte, war ein weiterer Beweis für seine Jämmerlichkeit. Er empfand Loyalität für eine Frau, die ihn belogen und betrogen hatte. Aber dass er jetzt nicht seine Sachen packte, hatte nichts mit Loyalität zu tun. Er wollte hören, was sie zu sagen hatte. Und er wollte seine Kinder noch einmal sehen - danach konnte er mit schwerem Herzen, aber ruhigem Gewissen gehen und versuchen, dieses letzte Jahr aus seinem Gedächtnis zu streichen.
22
Sophie stand am Fenster und blickte hinunter in den Hof, wo die schwer beladene Kutsche des Comte du Plessis-Fertoc darauf wartete, dass die Fahrgäste vollzählig waren. Der Graf stand bei einem Rappen, der hinten an die Kutsche angebunden war, und fütterte ihn mit Mohrrüben. Ghislaine stieg langsam und vorsichtig die Treppe zum Hof hinab. Sie war in einen Pelzumhang gehüllt, unter dem sie einen der Säuglinge trug. Neben ihr schritten zwei dick vermummte Frauen, eine hatte seinen gut verpackten Bruder auf dem Arm. Sie stiegen alle in die Kutsche, der Graf folgte als Letzter, und dann fuhren sie davon.
Sophie fühlte Tränen in ihren Augen brennen und wischte sie mit dem Handrücken weg. In der Zeit nach der Geburt der Knaben war zwischen der Gräfin und ihr
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