Der Duft der roten Akazie
gesellschaftliche Regeln auf eine alles andere als alltägliche Situation angewendet. Sie spürte, wie sie errötete, und hoffte, dass er es nicht sehen konnte. Also nickte sie nur ruckartig und legte sich wieder hin. So dankte sie ihm seine Unterstützung! Wie hatte sie sich nur derart albern verhalten können? Außerdem würde nie jemand erfahren, was sie und Adam getan hatten. Hinzu kam, dass es keine Rolle spielte.
»Niemand«, flüsterte Ella. »Es gibt niemanden.« Sie war ganz allein auf sich gestellt. Die Normen der Gesellschaft galten nicht mehr für sie. Es ging nur noch ums Überleben.
»Gute Nacht«, murmelte Adam. Ella deutete es als Zeichen, dass er nicht gekränkt war.
»Gute Nacht«, erwiderte sie leise.
Irgendwann in der Nacht erwachte sie halb aus einem Traum. Sie war wieder im dunklen Wald, und die Stimmen und Fackeln näherten sich. Ella starrte auf die Unterseite des Karrens, ohne zu wissen, wo sie sich befand.
»Ich will nach Hause«, sagte sie mit schwerer Zunge. »Es gefällt mir hier nicht. Kann ich nicht nach Hause gehen?«
Eine dunkle Gestalt beugte sich über sie, und sie spürte seinen warmen Atem auf der Wange. »Natürlich kannst du nach Hause, Cinderella. Du musst mir nur verraten, wo es ist.«
Doch der Traum zog sie erneut in seine Arme. Sie schmiegte sich tiefer in ihre Decken, kuschelte sich an den warmen Hund und schlief wieder ein.
3
Das Bush Inn am südlichen Rand des Black Forest war ein großer und beliebter Gasthof, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Erleichtert und erschöpft betrachtete Ella das Gebäude.
Die Strecke vom Gap bis hierher betrug nur wenige Kilometer, weshalb sie eigentlich in wenigen Stunden zu bewältigen war. Allerdings hatten der Regen und eine Pechsträhne dafür gesorgt, dass die Fahrt den ganzen Tag in Anspruch nahm. Immer wieder waren die Räder des Karrens im Schlamm stecken geblieben, sodass Ella aussteigen musste, damit Adam und Bess ihn wieder flottmachen konnten. Manchmal waren sie sogar gezwungen gewesen, das Gefährt vollständig zu entladen, bis sich die Räder wieder bewegten, was eine zeitraubende und anstrengende Angelegenheit war. Obwohl die beiden Goldgräber, deren Gepäck Adam an Bord genommen hatte, ihnen halfen, war der Großteil der Arbeit an ihm hängen geblieben.
Ella hatte, unter ihrer Decke verkrochen, im Nieselregen verharrt. Ihre Schuhe waren durchweicht und schlammig, und sie war zu dem Schluss gekommen, dass man sich im Leben nicht mehr elender fühlen konnte. Selbst Wolf schien das Wetter aufs Gemüt zu schlagen. Anstatt umherzutollen, kauerte er sich lieber neben Ella auf den Boden.
Adam mühte sich verbissen ab. Sein blondes Haar war von Regen und Schweiß dunkel geworden. Endlich war der Karren befreit, und sie konnten ihre Fahrt fortsetzen.
Am späten Nachmittag bemerkte Adam, dass Bess zu allem Überfluss auch noch ein Hufeisen verloren hatte. Doch dagegen ließ sich erst etwas tun, nachdem sie die Zivilisation erreicht hatten.
Immer wieder hatte Adam ihr wortlos einen Blick zugeworfen, denn sie waren beide nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Auf der Straße schleppten sich die Goldgräber durch den Regen, und langsame Ochsenkarren rollten unbeholfen dahin. Hin und wieder kamen sie an den Wracks anderer Fahrzeuge vorbei, und einige Male erkannte Ella den halb verwesten Kadaver eines Pferds oder Ochsen.
Deshalb wusste sie das Bush Inn, dessen Kamine sie mit in die Dämmerung aufsteigenden Rauchwolken zu begrüßen schienen, noch mehr zu schätzen.
Das Haus aus Backsteinen und Holz war ein festes Bauwerk in einer Gegend, in der alle auf der Wanderschaft waren. Hier konnten Reisende gegen Bezahlung eine warme Mahlzeit und Getränke einnehmen. Es gab auch Einzelzimmer, die jedoch ebenfalls ziemlich teuer waren, weshalb die meisten Gäste die Gemeinschaftsunterkünfte bevorzugten. Bei Adams und Ellas Ankunft wirkte das Gebäude wie eine kleine Stadt, um das sich schon in weitem Umkreis unzählige Fahrzeuge drängten.
Gerade Eingetroffene sahen sich aufgeregt und ehrfürchtig um. Gäste traten, lachend und ein Glas in der Hand, aus den Türen. Wild dreinblickende Goldgräber erörterten lautstark ihre jüngsten Funde. Und Neuankömmlinge ängstigten einander mit Gerüchten über die Straßenräuber, die im Black Forest ihr Unwesen trieben. Einige wenige Frauen, manche davon mit Kindern, versuchten ein wenig Alltäglichkeit einkehren zu lassen, indem sie auf qualmenden Feuern Mahlzeiten zubereiteten
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