Der Duft des Anderen
Lorenzen rang mit ihrer Neugier und ihrem Gewissen. Schließlich wagte sie es und wählte Kirchs Privatnummer. Was konnte er ihr schon tun? Sie deswegen entlassen? Dennoch klopfte ihr Herz bis zum Zerspringen, als sie das Freizeichen hörte.
Es wurde abgenommen. »Ja?«
Gott sei Dank! Er war zu Hause und bei Bewusstsein. »Herr Professor? Hier Lorenzen. Herr Professor, entschuldigen Sie, dass ich störe, ich wollte mich einmal erkundigen, wie es Ihnen geht. Sie haben gar nicht angerufen, ich dachte, es sei vielleicht etwas Ernstes.«
So! Sie hatte ihre Sache ohne Luft zu holen vorgebracht, jetzt war der Professor an der Reihe.
Inge Lorenzen hörte erst einmal gar nichts. Bekommt er etwa gerade einen Anfall? Einen Herzanfall? Aber er sah doch immer so gesund aus!
»Frau Lorenzen?«, meldete sich jetzt eine Stimme. »Danke für Ihren Anruf, es geht mir immer noch sehr schlecht. Rechnen Sie nicht mit mir innerhalb der nächsten vier Wochen.«
»Oh!«, stöhnte sie ins Telefon. Sie war erschrocken, denn der Dompfaff hörte sich wirklich nicht gut an. Seine Stimme war so verändert. »Das tut mir leid, Herr Professor.« Sie fühlte, es wäre indiskret, ihn zu fragen, was ihm fehle. »Ich möchte Sie in Ihrem Zustand wirklich nicht belästigen, aber ich habe schon etliche Termine auf dem Tisch liegen, und wenn Sie die nächsten vier Wochen …«
»Habe ich keine Vertretung?«, kam es barsch.
Inge Lorenzen zögerte. »Sie meinen wirklich, ich soll Ihre Vertretung anfordern, diesen – Kampnagel? Entschuldigung, Professor Kampnagel. Ich hatte den Eindruck, Sie – äh – mögen ihn nicht besonders.«
»Nicht besonders, stimmt, aber fordern Sie ihn an, tun Sie das, ja! Ist schließlich ein Notfall, wenn man krank ist. Guten Tag, Frau Lorenzen.«
Inge Lorenzen war ins Schwitzen gekommen. Sie hatte das Gefühl, mit einem ganz anderen Menschen gesprochen zu haben. Was mochte dem Professor nur fehlen? Und der Kampnagel, dieser unmögliche Mensch, in seinem Büro? Katastrophe! Sie seufzte und rief die Nummer in Geesthacht an.
In Pöseldorf riss Barbara entnervt das Telefonkabel aus dem Stecker, dann rief sie den Pförtner über die Sprechanlage: »Hier Kirch. Ich habe wichtige Arbeiten mit nach Hause genommen und möchte bis auf Weiteres keine Besucher!«
Der Herr ist heute ungnädig
, dachte Hermann. Immerhin wusste er jetzt den Grund, weshalb er den Professor nicht mehr zur Arbeit gehen sah. »Selbstverständlich. Ich habe das notiert.«
»Es kann sein, dass ich mir etwas zu essen bestelle«, fuhr sie fort. »Dann rufen Sie mich bitte an. Und noch etwas. Herr von Stein hat selbstverständlich nach wie vor jederzeit Zutritt. Mein Kollege ist Ihnen ja bekannt.«
»Natürlich. Herrn von Stein werde ich wie immer hinauflassen. Einen schönen Tag noch, Herr Professor.«
»Danke – äh …«
»Hermann, Herr Professor. Ich habe heute Tagdienst, Walter löst mich um acht ab wie immer.«
»Natürlich. Danke, Hermann. Ich bin etwas zerstreut – wie alle Professoren.«
Hermann lachte. »Kann ja mal vorkommen.« Er warf noch einen missbilligenden Blick auf die Sprechanlage.
Ich muss mal den Techniker rufen
, dachte er,
irgendetwas ist mit dem Ding nicht in Ordnung.
***
Im Club ›Die Freunde‹ war etwas Unerhörtes geschehen: Das Wochenende war vorübergegangen, und weder Joachim noch Alexander waren erschienen. Sie hatten auch nicht angerufen, was Rosalie persönlich nahm, denn anrufen konnte man schließlich immer.
Am Montag hatte sich Rosalie wie stets wieder in Bernd Fellmann verwandelt. Gleich am Vormittag musste er zu einer Konferenz.
Welcher Vollidiot in dieser Bank beraumt am Montagmorgen eine Konferenz an?,
fluchte er innerlich, bis ihm einfiel, dass er sie selbst für heute hatte festsetzen lassen mit E-Mail und zusätzlichem Rundschreiben.
In der Mittagspause rutschte er in seinem voluminösen Ledersessel so weit hinunter, dass sein Kopf hinter der Rückenlehne verschwand, starrte auf seine ausgestreckten Beine, ignorierte den zwei Zentimeter dicken Bericht auf seinem Schreibtisch, der die Arbeitsgrundlage zu der Konferenz gewesen war, und grübelte düster, ob es angebracht war, sich nach dem Grund ihres merkwürdigen und unentschuldbaren Fernbleibens zu erkundigen. Nur in sehr dringenden Fällen nahmen die Mitglieder außerhalb des Clubs Kontakt auf. Bernd Fellmann entschied, dass die Sache dringend sei. Er holte ein abgegriffenes rosa gebundenes Notizbüchlein aus den Tiefen einer
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