Der Duft des Anderen
Kleidung sah Joachim von Stein tadellos aus. Er überquerte die Straße und bog in die Kolonnaden ein. Es war ein milder Maiabend, und bevor er in den Club fuhr, wollte er einen kleinen Stadtbummel machen. Bei schönem Wetter bot Hamburg vom Stephansplatz bis zum Gänsemarkt, dann den Jungfernstieg an der Alster entlang bis zum Hauptbahnhof fast das Flair einer südlichen Metropole mit Straßencafés, flanierenden Menschen und Straßenmusikanten. Der Möncke-Brunnen war umlagert von Jugendlichen, bewaffnet mit ketchuptriefenden Burgern und Cola-Pappbechern. Das dazugehörige klassizistische Gebäude mit den zwei dorischen Säulen hatte früher eine Stadtbücherei beherbergt, dann war es umfunktioniert worden in einen Pommes-Tempel.
Joachim stellte sich zu einer Gruppe farbenfroh gekleideter Indios, die den segelnden Condor oder zumindest eine Weise, die ihm sehr nahe kam, auf ihren peruanischen Blockflöten bliesen. Folkloristische Stimmung, einige summten mit, am Ende wurde geklatscht. Ein dralles Mädchen mit langem, schwarzem Zopf sammelte in einem runden Hut, einige Zuschauer entfernten sich möglichst unauffällig, andere gaben bereitwillig.
Von gegenüber fühlte Joachim sich plötzlich angestarrt. Er starrte zurück in der Hoffnung, dass der andere weggucken würde, doch das tat er nicht. Jetzt lächelte der Fremde sogar. Joachim wendete den Blick ab. Was wollte der Mann von ihm? Er drängte sich tatsächlich durch die Menge und hielt auf ihn zu. Joachim von Steins linkes Augenlid begann zu zucken, das tat es immer, wenn er nervös war. Der Fremde mit den ausgebeulten Jeans, dem billigen T-Shirt, in der Hand eine Plastiktüte von Karstadt, gehörte offensichtlich nicht zu seinen Kreisen. Von Steins Miene wurde abweisend. Sie wurde eisig, als der Mann mit dem schütteren Haar und dem Dreitagebart ihn angrinste und dabei lange, gelbliche Zähne entblößte. »Mensch Jan, so ein Zufall. Du in Hamburg? Wie geht’s denn immer?«
Gerade noch konnte von Stein einem kumpelhaft gemeinten Schlag ausweichen. »Meinen Sie mich, mein Herr?«
»Mensch Jan, sei doch nicht so förmlich. Ich bin’s, Erwin, Erwin Köpke aus der II A. Mensch, erkennste mich denn nicht mehr? Den alten Erwin?«
»Tut mir leid, mein Herr, Sie müssen mich verwechseln.« Joachim von Stein wollte gehen, da legte ihm der Mann die Hand auf den Arm. »Nee, nee Jan, dich kann man gar nicht verwechseln. Kann aber sein, dass ich mich verändert habe.« Erwin grinste. »War eine Weile in Santa Fu zur Erholung, wenn du verstehst, was ich meine.«
Von Stein pflückte die Hand von seinem Pullover. »Bitte belästigen Sie mich nicht. Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei.«
»Ach! Die Polizei?« Erwin Köpke ging zwei Schritte zurück und musterte Joachim von Stein von oben bis unten. »Bist ein feiner Pinkel geworden, was? Willst einen alten Kumpel nicht mehr kennen, der Pech gehabt hat. Aber du hättest ebenso im Knast landen können, hast genug Dreck am Stecken, Silberfuchs! Von dir ist allerhand über meinen Schreibtisch gelaufen, kannste mir glauben.«
Joachim war geneigt, dem Mann eine Verwechslung abzunehmen, aber nicht, ihm weiterhin sein Ohr zu leihen. »Mein Name ist von Stein, Joachim von Stein. Ich habe Sie noch nie gesehen, und einen Jan kenne ich auch nicht. Bitte glauben Sie mir das. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.«
Erwin Köpke starrte dem blonden Mann mit offenem Mund nach. »Joachim von Stein?«, murmelte er, sich am Kopf kratzend. »Hattest es wohl verdammt nötig, deine Krawatte zu wechseln, Jan Matuschek! Aber gleich ’nen Adelstitel? Junge, Junge, diesem Ritterschlag wird Erwin Köpke mal auf den Grund gehen.« Er schwenkte die Karstadt-Tüte. »Hast offensichtlich eine ansehnliche Schar Mäuse um dich versammelt. Nur Geduld. Erwin ist dabei, eine Mäusefalle aufzustellen.«
***
Joachim stieg die durchgetretenen Stufen zum ersten Stock hinauf. Kein Verfall – alles Alterspatina, ein leichter Geruch nach Nussöl und Zitrone umwehte ihn, ein Spezialbohnerwachs von Ilse, dem Transvestiten, die im Erdgeschoss wohnte und den Hausmeisterposten versah. Das schmiedeeiserne Geländer war dem Stil der Jahrhundertwende nachempfunden, aber noch keine zehn Jahre alt, der Hausflur im Erdgeschoss altrosa gestrichen, im ersten Stock lindgrün. Den zweiten Stock hatte Joachim nie gesehen.
Er klingelte zweimal kurz und zweimal lang. Schritte näherten sich der Tür, aber niemand öffnete. Joachim wusste, dass er erst einmal durch den
Weitere Kostenlose Bücher