Der Duft des Blutes
sie an der Bücherwand stand und seine Schätze bewunderte, wie sie, in das lange Seidenkleid gehüllt, die Treppe herunterschritt. Er wollte sie besitzen, ihr Blut bis zum letzten Tropfen trinken und sich am Geruch ihrer nackten Haut berauschen, nur so würde er Frieden finden.
Der Vampir hielt inne und blieb mitten in dem gelben Schlafzimmer stehen. Hier hatte sie sich umgezogen, ihr seidiges Haar gebürstet. Würde er jemals Ruhe finden? Wie lange würde das Gefühl der befriedigten Lust andauern?
Er musste sich zurückhalten, so wie bei den anderen Menschen auch, deren Blut jede Nacht seine Gier stillte. Dann könnte er immer wieder zu ihr kommen. Sie würde schwach und schwächer werden, doch wenn er vorsichtig wäre, dann könnte sie über Jahre hin ihr Blut für ihn geben. Doch wollte er sie so welken sehen? Und wäre es schön, sich immer und immer wieder zügeln und beherrschen zu müssen, im Vergleich zu der Ekstase, die er empfinden könnte, wenn sie unter seinem Biss, Herzschlag für Herzschlag, ihr Leben aushauchte?
„Ich will sie ganz!", schrie er wild. Der leere Spiegel, der einst ihr Bild zurückgeworfen hatte, grinste ihn höhnisch an. Die glitzernde Leere brannte ihm in den Augen. Er griff nach einer kleinen Bronzestatue und schleuderte sie in die silbrige Glasfläche. Mit einem durchdringenden Klirren zersprang der Spiegel in tausend kleine Scherben, die knisternd herabrieselten. „Und ich will sie für immer", flüsterte er und ließ die Arme sinken. Zum ersten Mal in seinem unruhigen Wandeln als Vampir begann er darüber nachzusinnen, wie es wäre, eine Gefährtin an seiner Seite zu haben.
Den ersten Schock des Tages bekam die Kommissarin, als sie in die U-Bahn stieg und ihr Banknachbar die Hamburger
Morgenpost aufschlug.
Kidnapper hat sich gemeldet prangte ihr die Überschrift entgegen. „Ist die kleine Lilly bald frei?"
Trotz der frühen Morgenstunde hatte sich schon ein ganzer Pulk an Reportern vor dem Präsidium eingefunden, die den Pressesprecher umlagerten. Die Kommissarin versuchte sich unauffällig vorbeizumogeln, doch da stellte sich ihr Frank Löffler breit grinsend in den Weg. Er hob die Kamera, der Blitz zuckte.
„Haben Sie ein Lebenszeichen von dem Kind? Wie viel verlangt der Kidnapper? Wann und wo wird die Geldübergabe stattfinden? Wird die Kripo nun endlich aktiv, nachdem sie über einen Monat einfach nur geschlafen hat?"
„Verschwinden Sie!", zischte Sabine und drückte sich an ihm vorbei.
„Ich wünsche Ihnen auch noch einen schönen Tag, Frau Kommissarin", spottete der Reporter und schoss noch ein paar Fotos von ihrem Rücken.
Kaum betrat die Kommissarin das Büro, da klingelte auch schon ihr Telefon. Es war Doktor Lichtenstein, und er war ziemlich verärgert.
„Ich werde Sie anzeigen!", donnerte er. „Das wird Sie Ihren Job kosten! Das ist nicht nur Diebstahl, das ist -"
Endlich gelang es Sabine, ihn zu unterbrechen. „Wovon reden Sie eigentlich, Herr Lichtenstein? Ich verstehe kein Wort!"
„Tun Sie nur nicht so unschuldig!", schimpfte der Arzt. „Sie oder einer Ihrer Kollegen haben die Karteikarte entwendet.
Das ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft!"
„Welche Karteikarte?", fragte sie langsam, obwohl ihr die Antwort bereits klar war.
„Die von Lilly Maas natürlich!"
„Hören Sie, weder ich noch einer meiner Kollegen hat auch nur einen Blick auf Lillys Patientenkarte geworfen, geschweige denn sie entwendet", versicherte ihm die Kommissarin, während sie nebenbei ihre Post durchsah.
Ein brauner Umschlag, den offensichüich ein Kurierdienst gebracht hatte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie verabschiedete sich von dem Kinderarzt, der sich noch immer nicht beruhigt hatte, und schlitzte den Umschlag auf. Eine Karte mit der Aufschrift Praxis Dr. Lichtenstein glitt auf ihren Schreibtisch.
„Aber jetzt werde ich einen Blick darauf werfen!", murmelte Sabine und schüttelte fassungslos den Kopf. Sie zog sich Handschuhe an und faltete dann die Karte auf. Mühsam entzifferte die Kommissarin die Diagnosen des Arztes. Die ersten Einträge enthielten nichts Ungewöhnliches, doch im September hatte jemand zwei Zeilen ausradiert und dann wieder.neu beschrieben. Das würde sich das Labor genauer ansehen müssen.
Sönke steckte den Kopf ins Zimmer. „Kommst du? Die anderen warten schon."
„Ja, ja, ich schicke das nur noch rasch ins Labor."
Ich möchte bloß wissen, wer uns die Karte hat zukommen lassen, dachte sie, als sie hinter Sönke den Flur
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