Der Duft des Blutes
Gewissen hat. Können Sie es mit Ihren Pflichten als Arzt vereinbaren, uns nicht zu helfen?"
Unruhig drehte Dr. Lichtenstein eine Karteikarte in seinen Händen, doch dann legte er sie auf den Tisch, so als habe er eine Entscheidung getroffen. Er sah die Kommissarin einige Augenblicke fest an, dann begann er zu sprechen.
„Ich werde Ihnen meine Meinung sagen, doch nur hier, sozusagen privat und ohne Aufnahmegerät."
Die Kommissarin und der Kriminalobermeister nickten.
„Bei ihrem Besuch am achten September klagte das Kind über Bauchschmerzen, doch ich konnte keine körperliche Ursache finden. Die Mutter gab an, dass Lilly schlecht schlafe, wieder angefangen habe, Daumen zu lutschen, und ab und zu das Bett nass wäre, obwohl sie eigenüich seit drei Jahren nachts trocken sei."
„Haben Sie das Kind untersucht?"
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nicht auf körperlichen Missbrauch, wenn Sie das meinen. Sehen Sie, das Kind lebte vorher bei seiner Großmutter, bis diese in ein Heim kam. Im August hat ihre Mutter sie zu sich genommen. Ich wusste erst nichts über deren Beruf, doch dann dachte ich, das Kind hat vielleicht Dinge gesehen, die ein Kind in diesem Alter nicht sehen sollte."
„Sie meinen, wie die Mutter Sex mit ihren Freiern hatte!", stellte Sönke fest. Der Arzt lächelte verlegen und nickte.
„Ist das Mädchen vergewaltigt worden?", fragte die Kommissarin.
Wieder zuckte der Arzt zusammen. „Das glaube ich nicht."
„Wann haben Sie Edith und Lilly Maas zum letzten Mal gesehen?"
„Am ersten Oktober von drei bis circa vier hier in meinem Sprechzimmer."
„Kann ich Lillys Karteikarte einmal sehen?"
Entrüstet lehnte der Arzt ab und bat die Kripoleute nun zu gehen, da er noch einen wichtigen Termin habe. Kaum waren die Besucher verschwunden, griff er nach seinem Jackett und eilte die Treppe hinunter. Der Motor des roten Porsches heulte auf, mit quietschenden Reifen schoss der Wagen auf die Straße hinaus.
Auf dem Weg zurück zum Präsidium sagte Sabine kein Wort. Die Stirn gerunzelt, die Lippen fest aufeinandergepresst, steuerte sie den Wagen um die Alster herum durch Winterhude nach Alsterdorf.
„Warum war der liebe Doktor so nervös?", fragte sie nach einer Weile.
Sönke zuckte die Schultern. „Welcher Arzt lässt sich schon gern in die Karten gucken? Vielleicht hat er Angst, man könne ihm vorwerfen, versagt zu haben."
„Ich glaube, da ist noch was. Ich hab so ein komisches Gefühl."
Doch dann vergaß die Kommissarin den Arzt. Während sie im Aufzug zu ihrem Büro hinauffuhren, kreisten ihre Gedanken schon wieder um Peter von Borgo. Sabine ließ sich in ihren Schreibtischstuhl fallen, während Sönke zweimal Friesenmischung Spezial ansetzte.
„Danke." Sabine lehnte sich zurück und nippte an dem starken Gebräu. „Du, Sönke, hast du ein paar Minuten Zeit? Ich möchte dich etwas fragen."
Der grauhaarige Kollege tippte auf seine Armbanduhr. „Noch mindestens drei Stunden bis zum Feierabend, also schieß los, mien Deern."
Sabine knetete ihre Hände. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Sie warf dem Kollegen einen Hilfe suchenden Blick zu, doch der wartete geduldig und schlürfte seinen Tee.
„Es passieren in letzter Zeit komische Dinge", fing Sabine nach einer Weile an. Sönke schwieg.
„Genauer: Mir oder, besser gesagt, mit mir passieren Dinge-"
Sie sah den Kollegen an, doch der nickte nur, zum Zeichen, dass er ihr zuhörte. Sabine kaute auf ihrer Unterlippe, doch dann brach es aus ihr heraus: das ständige Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, die Stimmen, die sie hörte, die Stunden, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, ihre zahlreichen Begegnungen mit Peter von Borgo und sein seltsames Verhalten -wobei sie einige Details lieber ausließ.
„Der Jung beschäftigt dich ja ganz schön", brummte Sönke und nickte dann langsam, als er sah, wie sich ihre Wangen verfärbten.
„Was ist, wenn er etwas mit den Morden zu tun hat? Ich habe so ein komisches Gefühl, dass da etwas megafaul ist."
Sönke wiegte den Kopf hin und her. „Das reicht noch nicht, um ihm ein Observationsteam auf den Hals zu schicken. Außer deiner Ahnung hast du nichts, was auf illegales Treiben schließen lässt. Dass er seine Villa nur zum Klavierspielen nutzt, ist nicht strafbar."
„Aber komisch!", rief Sabine. „Er wohnt hier in Hamburg, ist nicht gemeldet und rückt seine Adresse nicht heraus!"
Sönke grinste breit. „Vielleicht wohnt er ja bei einem Freund und will sich nicht
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