Der Duft des Meeres
Camille sah es über die Schulter ihres Vaters hinweg. Die unnatürliche Welle schien innezuhalten, unnachgiebig, während die anderen um sie herum herunterkrachten und rollten und sich wieder aufbauten.
»Vater«, flüsterte sie, als schwarze Lücken begannen, durch die grüne Welle zu scheinen. Zwei ovale Blasen wie leere Augenhöhlen. Dann wuchs in der Mitte unter ihnen ein dreieckiger Hohlraum.
»Vater!«, schrie sie, als eine Abfolge vertikaler und horizontaler Linien die Welle direkt unterhalb des Dreiecks wie grinsende Zähne durchschnitt. Ihr Vater folgte ihrem verängstigten Blick und drehte sich gerade rechtzeitig um, um ein schwarzes totenkopfartiges Gesicht in der grünen Welle über der Christina aufragen zu sehen. Sie spürte, wie der Griff ihres Vaters sich lockerte, als die riesigen skelettartigen Kiefer sich teilten und die Welle sich zurückzog, um anzugreifen.
»Halt dich fest!«, brüllte er, als die Zähne der Welle auf das Schiff zuschossen. Das grüne Wasser verschlang Camilles Schrei. Von dem Vordach weggerissen stürzten Camille und ihr Vater vom Deck ins Wasser. Alles war schwarz und kalt. Sie umklammerte den Arm ihres Vaters, während sie losschwammen. Die gelbgrüne Welle war jetzt fort. Was war das für ein Ding gewesen?
Sie hörte das Schiff, das Geräusch, das ihr die Eingeweide zusammenzog, das Geräusch von sich verbiegendem Metall und brechendem Holz. In den durch die Dunkelheit zuckenden Blitzen sah sie Trümmer auf dem Kamm jeder Welle, bleiche Seeleute schrien und rangen nach Luft, während sie mit Armen und Beinen um sich schlugen. Ihre Augen ersehnten das Aufscheinen von Blitzen, um etwas sehen zu können, irgendetwas, selbst wenn es ihr Angst machte. Und dann, während der nächste Blitz über den Himmel zuckte, sah sie die letzten Reste der Christina im Meer versinken. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es bersten – und dann begriff sie plötzlich, dass sie mit beiden Händen auf die Wellen schlug.
Eine Welle traf sie und zog sie herunter. »Vater!«, schrie sie, Seewasser spuckend, als sie wieder an die Oberfläche kam und von der nächsten Woge emporgehoben wurde. Sie drehte sich in alle Richtungen, aber die Aussicht war überall gleich. Kaltes, brausendes Wasser. Sie presste den Mund fest zu und kämpfte mit schwachen Armen und Beinen gegen die Wellen. Das Geräusch des Sturms wurde gedämpft, als Wasser in ihre Ohren geriet. Sie wusste nicht, ob sie tiefer im Meer versank oder an seine Oberfläche stieg. Das Wasser betäubte ihre Glieder, und sie hörte auf, um sich zu schlagen. Ihre Beine traten nicht länger. Camilles Hände schwebten schwerelos über ihrem Kopf. Sie trieb in alle Richtungen, eine Stoffpuppe, die hin und her geschüttelt wurde. Aber sie weigerte sich, den Mund aufzumachen und die letzte Unze Luft in ihren Lungen aufzugeben.
Etwas Warmes strich über Camilles Hand. Ein fester Griff schloss sich um ihre eisigen Finger, wanderte zu ihrem Ellbogen hinauf und zog sie hoch. Sie landete auf etwas Hartem, abseits der Wellen.
»Atme!« Oscars gedämpfte Stimme brachte sie wieder zu sich. Warmes Wasser floss aus ihrem Mund, und sie hustete, als der Rest davon aus ihrer Nase spritzte. Oscars Finger gruben sich in ihren Arm und taten ihr weh.
»Runter!«, schrie er.
Camille umklammerte den Rand des Beiboots, als sie auf einen Wellenkamm stiegen und auf der anderen Seite herunterkrachten. Sie hustete weiteres Salzwasser aus und kauerte sich auf die Planken des Boots, das Oscar wundersamerweise gerettet hatte.
Galle stieg Camille in den Mund, während gelbe und orangefarbene Punkte vor ihren Augen explodierten. Eine Welle von Hitze trieb ihr trotz des eisigen Wassers Schweiß auf Hals und Brust. Das Beiboot fühlte sich an, als drehte es sich, gefangen in einem Strudel. Sie lag auf der Seite, den Kopf auf die Arme gebettet. Wasser schwappte auf dem Boden des Boots, floss in ihr Ohr und wieder heraus.
Camille hörte ein Ächzen und ein dumpfes Geräusch. Sie widerstand einer plötzlichen Übelkeit und dem stechenden Schmerz in ihrer verletzten Schläfe und hob den Blick.
»Vater?«, stöhnte sie. Aber das Gesicht neben ihrem war lang, spitz und jung. Lucius Drake lag auf dem Rücken und Strähnen nassen Haars klebten an seinem Gesicht.
»Oscar, mein Vater!«, schrie sie, aber wenn er sie hörte, ließ er sich nichts anmerken. Oscar ruderte weiter und duckte sich unter den Wellen hindurch, wenn sie herunterkrachten. In ihrem Schwindel tastete sie nach
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