Der Duft des Meeres
war, ein gestreiftes Kleid aus handgesponnener Wolle anzuziehen, taumelte sie vor Müdigkeit. Der grässliche Stoff hing schlaff um ihre Taille und ihre Rippen und entblößte zu viel Haut unterhalb des Halses. Ein Zylinder aus Flaschenglas, der in die Bohlen des Decks eingelassen war, ließ grünliches Tageslicht in die Kajüte ein. Die Schiffsglocke erklang auf Deck und signalisierte einen Wachwechsel, während Camille den Verband von ihrem Kopf abnahm und versuchte, ihr verheddertes Haar zu glätten.
Sie schnürte sich die Stiefel, und obwohl ihr Kopf sich anfühlte, als sei glibberiges Gelee darin, verließ sie die Kajüte. Sie erwartete, einen dämmrigen Flur wie auf der Christina zu sehen, aber stattdessen breitete sich vor ihr eine ganze Ebene des Schiffs aus.
Weitere Hängematten, von denen einige von schnarchenden Seemännern besetzt waren, hingen von Balken an der Decke herab, und zwei lange Tische mit Bänken waren in der Nähe eines dicken, bauchigen Kochherds am Boden festgenagelt worden. An Steuerbord und Backbord befanden sich zugenagelte und abgedichtete Kanonenluken. Dies war kein Handelsschiff wie die Christina. Früher hatten Kanonen vor jeder Luke gestanden, obwohl das Deck jetzt frei war von Artillerie. Eine Leiter führte aufs Oberdeck und neben ihr führte eine andere Leiter zu den unteren Decks.
Mit großer Anstrengung und zitternden Oberschenkeln kletterte Camille die Leiter hinauf. Als sie an Deck kam, hob sie das Gesicht der Sonne entgegen und sog die Wärme in sich auf. Ein goldener Abendhimmel und drei voll betakelte Masten ragten über ihr auf. Matrosen hangelten sich über die Rahen und Vorsegel, bis hinaus zum Klüverbaum. Sie waren so hoch oben, dass sie wie kleine schwarze Punkte aussahen. Das Deck der Londoner summte von Aktivität und der Wachwechsel war fast beendet. Camille entdeckte Oscar sofort. Seine Füße waren auf der Steuerbordreling und er hatte beide Hände um ein strammes Tau gelegt.
Sie winkte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er kam auf sie zu und Schweiß und Fett bedeckten sein Kinn. Er wirkte müde und angeschlagen, aber Erleichterung leuchtete in seinen Augen auf. Camille wollte die Arme um ihn schlingen, wollte ihn halten und ihm sagen, wie erleichtert sie war, dass er überlebt hatte. Aber je näher er kam, umso nervöser wurde sie bei dem Gedanken, ihn tatsächlich zu berühren. Es wäre zu kühn und sie spürte von der anderen Seite des Pazifiks aus Randalls Blick auf sich.
»Daphne sollte mich holen, wenn du zu dir kommst.« Seine Brust hob und senkte sich schnell, was ihr sagte, dass auch er mehr Ruhe brauchte. Er inspizierte ihre Wunde und legte die Stirn in Falten.
»Mir geht es gut«, beteuerte sie ihm. »Aber Oscar, mein Vater. Hast du ihn gesehen? Wir haben uns an den Händen gehalten und dann war er fort. Mir war nicht einmal bewusst, dass ich losgelassen hatte. Ich dachte … ich hatte gehofft, dass du vielleicht gesehen hast, dass er in ein anderes Beiboot gestiegen ist, bevor du mich gerettet hast?«
Camille zwang sich, Luft zu holen, als Oscars Ausdruck der Sorge einem des Unbehagens Platz machte. Dann dem der Verzweiflung.
»Camille.« Seine Hand strich zittrig an ihrem Arm hinunter. Er öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, holte Luft, stieß den Atem dann jedoch aus und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«
Camille biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, bis es wehtat, und starrte über die Reling. Das konnte nicht sein. Ihr Vater konnte nicht tot sein. Die Wellen verschwammen und verschmolzen zu einem nebligen Blaugrün, während sie gegen die Tränen kämpfte. Das Meer, das er so sehr geliebt hatte, konnte ihn nicht geholt haben. Allein die Vorstellung ihres Vaters unter den Wellen, wie er um Luft rang, während sein lebloser Körper ins Nichts sank … nein, nein, nein!
Sie umklammerte die Reling, zog die Schultern hoch und holte tief Luft, um nicht hysterisch zu werden. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, ohne ihren Vater. Sie wollte ihn zurückhaben, sie wollte ihn in Sicherheit wissen, bei ihr und Oscar, sie wollte, dass er … lebte.
»Camille.« Oscar legte ihr die Hand auf den Rücken und seine Berührung erregte sie kaum. Es schien, als würde nichts sie jemals wieder berühren können.
»Du warst die ganze Nacht in dem Beiboot im Delirium«, fuhr er fort. »Ich habe mir um deinen Kopf Sorgen gemacht. Aber du siehst besser aus. Darüber bin ich sehr froh.«
Sie selbst war nicht froh. Sie
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