Der Duft des Meeres
die schöne Frau auf dem Ölgemälde im Arbeitszimmer ihres Vaters lebendig zu machen. Wie hatten ihre Lippen, die schwungvollen Pinselstriche, sich bewegt, wenn sie sprach? Wie waren die Zähne geformt, die ihr Lächeln entblößte? Wie hatte ihr Lachen geklungen? So viele Fragen, dachte Camille. Als sie sich auf die Seite drehte und sich die Decke bis ans Kinn hochzog, kamen ihr leichte Gewissensbisse. Sie wollte zwar Antworten, aber den Stein und ihren Vater wollte sie noch mehr.
Kapitel 11
Camille zog die Jacke, die Ira bei seinem letzten Pokerspiel in Melbourne gewonnen hatte, über den Kopf, als es in Strömen zu regnen begann. Sie kamen gut voran in Richtung Bendigo, aber das Wetter verringerte die Sicht auf weniger als einen Meter. Ihr Pferd hatte Mühe, den Wagen durch den Schlamm zu ziehen. Ira ritt zu ihr zurück.
»Lassen Sie mich mal.« Er saß ab und half Camille vom Kutschbock. Oscars Pferd kam herbeigetrabt.
»Ein anderer Kutscher wird die Erde nicht wieder hart machen!«, rief Camille in dem Bemühen, einen Donnerschlag zu übertönen, der hallte wie herabfallendes Blech. Sie wischte sich den Regen aus den Augen und trottete zu seinem Pferd. Ira schlug mit den Zügeln und die eingesunkenen Räder bewegten sich zentimeterweise vorwärts. Er fuhr weiter, während Oscar neben ihr ritt. Sie waren auf einer nordwestlichen Route. Ira hatte es ihnen vor Tagesanbruch erzählt. Im Norden und Süden befand sich Hochland und ihr Pfad zwischen dichtem Gebüsch würde sie direkt dazwischen nach Westen bringen.
Der Regen endete so schnell wie ein Frühlingsschauer. Nicht mehr als ein leichter Sprühregen besprenkelte ihre Wangen, als ein leises, rhythmisches Donnern hinter ihnen erklang. Einer nach dem anderen drehten sie sich um. Camille suchte den grünen Horizont ab, sah aber nur Gras und Büsche, die sich in der Wärme, die von der Erde aufstieg, wiegten.
»Reiten Sie weiter«, befahl Ira, obwohl er unsicher klang. Camille fuhr fort, das Land hinter sich abzusuchen, als das Getrappel galoppierender Pferdehufe aus dem Donner heraus hörbar wurde.
Ein Rascheln von Wind, kühl und feucht, füllte ihre Ohren. Einzelne Haarsträhnen, die ihr Gesicht umrahmten, hoben sich und kitzelten ihre Haut, als das Säuseln des Windes sich in etwas anderes verwandelte. Es klang menschlich, wie ein heiseres Ausatmen mit offenem Mund. Es drang durch ihre Ohren und in ihren Kopf. Nein, nicht schon wieder. Camille presste die Augen zu, als das gutturale Singen sie durchfuhr. Sie senkte den Kopf und drückte das Kinn auf die Brust, als das hohle Trommeln wie der Puls eines schlagenden Herzens durch sie hindurchging. Ihr eigener Puls griff den Rhythmus auf und alles jenseits der Haut ihrer Augenlider verschwand. Genau wie in der Badewanne und in ihrer Kajüte an Bord der Christina brach der Gesang abrupt ab.
Sie rang nach Luft, begriff, dass sie den Atem angehalten hatte, und stieß ihn in dem grellen Nachmittagslicht wieder aus. Die Sonne stach ihr in die Augen.
»Ich habe gesagt, Sie sollen weiterreiten«, rief Ira ihr zu. Er und Oscar waren bereits ein Stück voraus, während Camilles Pferd aufgehört hatte, sich zu bewegen. Sie drehte sich in ihrem Sattel um. In dem heißen Dunst, den der Boden emporsandte, erschien eine unwillkommene Gestalt: Zwei leere Augenhöhlen, ein schmales, dreieckiges Loch anstelle einer Nase, tote Wangen und ein scharf geschnittener Mund mit schauerlichen Zähnen. Der düstere Totenkopf kräuselte sich in dem heißen Dunst, dann kreiselte er in einem Luftwirbel und verschwand.
»Was bei allen Feuern der Hölle war das?«, hauchte Ira.
Weit hinten zwischen den Bäumen und dem dichten Unterholz, wo der Totenkopf gewesen war, erschien eine Gestalt zu Pferd.
»Und wer ist das?«, fragte Oscar, als eine zweite und dann eine dritte Gestalt erschienen. Ira klatschte mit den Zügeln und der Wagen rumpelte vorwärts.
»Bewegung!«, rief er.
Ohne nachzudenken, grub Camille dem Pferd die Fersen in die Rippen und preschte davon. Wind peitschte ihr durchs Haar, und das Aufbäumen des Pferdes drohte, sie ins Gebüsch zu werfen. Die Reiter kamen schnurstracks und schnell hinter ihnen her. Iras Wagen holperte über Buckel, riss Zweige ab und schwenkte auf zwei Rädern um eine scharfe Kurve. Camille zitterte am ganzen Körper, während sie ritt, sie atmete kaum, und ihre Schienbeine und Knie schmerzten von ihrer verkrampften Haltsuche um die massige Brust des Pferdes.
»Hier!«, rief Ira. Das Grunzen
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