Der Duft des Regenwalds
weitere Nachforschungen möglich waren. Vielleicht sollte sie einfach nach Hause fahren, wie alle es von ihr erwarteten. Es war an der Zeit, sich wieder der Malerei zu widmen, sonst würde sie nach einem ersten bescheidenen Erfolg in Vergessenheit geraten. Sie atmete tief durch. Patricks Nähe war in diesem Raum nicht spürbar, obwohl er ihn bewohnt hatte. Sie wusste nicht, welches Verhalten er von ihr erwartet hätte, und fühlte sich wie eine Blinde, die durch eine Welt tappte, in der sie bei jedem Schritt gegen ein unbekanntes Hindernis stoßen könnte.
Es klopfte an der Tür, vermutlich Marcella, die Marianas Essen brachte. Der Hund bellte und lief aufgeregt herum.
»Adelante!«, rief Alice so laut wie möglich. Sie wollte nicht aufstehen. Die Bedienstete würde den gefüllten Napf einfach abstellen und wieder verschwinden.
Sie hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder zufiel. Mariana bellte laut, dann erklang eine leise, ruhige Männerstimme, die sie verstummen ließ. Alice fröstelte. Als ihr Gedächtnis ihr sagte, dass dieser Eindringling kein Fremder war, weigerte sie sich, daran zu glauben. Langsam drehte sie sich um. Es begann bereits dunkel zu werden, doch sie konnte sehr deutlich sehen, dass ein Mann in ihrem Zimmer stand. Seine Kleidung war zerschlissen, und er roch unangenehm nach Schweiß und nach anderen Dingen, die sie sich nicht vorstellen wollte. Sein Gesicht glich einer archaischen Steinfigur, edel und fremdartig.
»Señor Uk’um.«
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er legte schweigend eine Hand auf seinen Mund, um sie zu bitten, nicht zu sprechen.
»Nur ein paar Stunden. Bitte. In der Nacht kann ich nach draußen schleichen.«
Alice bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte, und versuchte verzweifelt, Haltung zu wahren. Mit einem fremden Mann im Zimmer würde sie sich nicht fürs Abendessen umziehen können, dachte sie und verstand nicht, warum ihr solche Belanglosigkeiten durch den Kopf gingen, während sie einem vermeintlichen Mörder gegenüberstand.
»Wie kommen Sie überhaupt hier herein?«
»Durch die Tür, wie Sie gemerkt haben.«
Er zog rasch die Vorhänge des Fensters zum Innenhof zu und lächelte. Seine Zähne waren nicht ganz so weiß wie die von Juan Ramirez, doch sein Gesichtsausdruck war entspannt, als sei er ein netter, harmloser Gast.
»Ich finde das nicht witzig«, antwortete Alice kühl, ihre Angst begann nachzulassen. Andrés hatte sich indessen zu Mariana gebeugt und redete leise auf sie ein, während er sie an ihrer Lieblingsstelle zwischen den Ohren kraulte. Er schien das Bellen des Hundes mehr zu fürchten als einen Hilfeschrei von Alice.
»Das ist ein sehr zutraulicher Hund. Man merkt, dass er gut behandelt wird«, sagte er, während Mariana seine Hände ableckte. Alice wünschte sich in diesem Moment ein Haustier von etwas mehr Sinn für vornehme Zurückhaltung.
»Danke, aber ich habe sie noch nicht sehr lange. Vorher war sie ein Straßenhund.«
Sie setzte sich auf das Bett und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ein als Mörder gesuchter Mann befand sich hier in ihrem Zimmer, auch wenn er keine Anstalten machte, ein Messer auf sie zu richten. Jeden Augenblick konnte jemand die Tür aufreißen und ihn hier finden. Dann würde auch sie einen schuldigen Eindruck machen, da sie mit ihm geplaudert hatte, anstatt sofort nach den Wachen zu rufen.
»Der Hund weiß, wem er vertrauen kann«, sagte Andrés Uk’um und sah sie an. Sie bemerkte das Fremdartige seines Gesichts, die dunkle Haut, die hohen Wangenknochen und die schrägen Augen hinter vertrauten Brillengläsern, wie Intellektuelle sie trugen.
»Würden Sie mir jetzt bitte erklären, was das soll?«, fragte Alice. Andrés ließ von Mariana ab, die wieder zu Alice lief und sich an ihre Seite schmiegte. Dann nahm er auf dem freien Stuhl Platz.
»Während das ganze Haus wegen des Feuers kopfstand, haben ein paar Freunde mich in einen zugemauerten Verschlag gezwängt, der hinter einer Wand verborgen ist. Nur wenn man ein paar Steine entfernt, entdeckt man ihn. Dort verstecken sie manchmal Nahrung, die sie aus dem Lager der Señora stehlen. Doch es ist da drinnen sehr eng, und nach einer Weile wird die Luft knapp. Viel länger hätte ich es nicht ausgehalten. Außerdem beginnt gerade eine weitere, noch gründlichere Suche in den Räumlichkeiten der Dienstboten und auch an Orten, wo sie sich häufig aufhalten. Es wurde zu gefährlich, deshalb holte man mich heraus, und ich schlich mich in
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