Der Duft des Regenwalds
zur Kenntnis nahm, so zeigte sie es nicht, sondern stellte das Tablett rasch auf dem kleinen Tisch neben dem Bett ab, reichte der aufgeregt herumspringenden Mariana die Futterschüssel und huschte dann wieder hinaus. Ihre Lippen formten ein paar Worte, die Alice nicht verstehen konnte, bevor die Tür zufiel.
Es gab mit Paprika gefüllte Fleischrouladen und Reis. Die Portion war großzügig, zudem stand noch eine Karaffe Wein auf dem Tablett, aber nur ein Glas. Es wäre wohl zu auffällig gewesen, wenn Marcella zwei mitgenommen hätte. Alice wandte sich an Andrés.
»Es ist, wie ich sagte. Wegen der Aufregung habe ich keinen Hunger, aber mir scheint, Sie können eine warme Mahlzeit gebrauchen.«
Nun war sein Lächeln verlegen.
»Wir teilen, schlage ich vor. Marcella hat uns genug gebracht. Aber ich wäre dankbar, wenn ich zuerst essen dürfte.«
Alice nickte, denn sie hatte wirklich nichts dagegen, auch ein paar Bissen abzubekommen. Andrés verschlang einen großen Teil des Fleisches, ließ ihr aber noch genug Reis übrig. Jeder sah schweigend zu, wie der andere aß, sodass sich kein weiteres Gespräch entwickeln konnte. Sie füllte das Weinglas und hielt es ihm hin, doch er schüttelte den Kopf.
»Ich trinke manchmal, aber nicht in einer Lage wie dieser.«
Sie erinnerte sich an Dr. Scarsdales Beschreibung der Trunksucht als Fluch des indianischen Volkes. Da sie selbst diesem Volk nicht angehörte, nippte sie an dem Wein. Irgendwie musste sie sich die Zeit vertreiben, bis ihr ungebetener Gast wieder verschwand, denn sie konnte sich nicht vorstellen, sich in seiner Gegenwart umzukleiden und schlafen zu legen. Nachdem sie den Rest des Fleisches Mariana überlassen hatte, da der Reis ihr genügte, bemerkte sie, dass ihr Glas leer war, und füllte es erneut.
Wieder klopfte jemand an die Tür. Alice fuhr erschrocken zusammen und warf Andrés einen ratlosen Blick zu. Er bewegte die Hand, um sie zu einer Antwort aufzufordern.
»Wer ist da?«, fragte Alice laut auf Spanisch.
»Ich wollte nach dir sehen. Bist du krank?«
Obwohl Juan Ramirez’ Stimme leise gewesen war, konnte sie jedes Wort verstehen. Andrés zog seine Brauen hoch. Ein spöttischer Zug lag um seinen Mund, als er Alice noch mal zur Tür winkte.
Er hatte recht. Sie konnte nicht einfach hier sitzen bleiben und hoffen, dass Juan Ramirez wieder verschwand.
»Es ist alles in Ordnung. Ich wollte nur ein bisschen allein sein«, sagte sie durch den Türspalt.
»Aber Alice, der gesuchte Mörder treibt sich vielleicht noch im Haus herum. Kann ich nachsehen?«
Wieder begann sie zu zittern.
»Mein Zimmer wurde doch schon durchsucht. Und wenn jemand hier wäre, hätte ich es wohl bemerkt«, sagte sie mit Nachdruck und schloss die Tür.
»Alice!« Er klang verwirrt und fast flehend wie ein Hund, der vor der Tür kratzte. »Ich möchte mit dir reden.«
»Ein andermal. Jetzt bin ich wirklich sehr müde.«
Eine Weile blieb es still, dann hörte sie, wie Schritte sich entfernten, und atmete erleichtert auf. Sie drehte sich um und sah einen breit grinsenden Andrés. Dabei hatte er die Unterhaltung nicht verstehen können, weil sie auf Französisch geführt worden war.
»Der arme Juan. Er ist schnelle Eroberungen gewöhnt«, sagte ihr ungebetener Gast. Alice wusste, dass sie bereits erobert worden war, und wurde wütend.
»Das ist nicht mein Problem.«
»Natürlich nicht. Aber Sie hatten unrecht, als Sie sagten, dass alle Leute hier auf Ihre baldige Abreise hoffen. Juan Ramirez tut es jedenfalls nicht.«
Alice ging missmutig zu dem Bett zurück.
»Er hat sich Sorgen um mich gemacht, nichts weiter.«
»Um die meisten Frauen dieser Welt macht er sich keine Sorgen. Aber Sie wären ein großer Gewinn für ihn.«
Alice trank von ihrem Wein. Er beruhigte ihre Nerven und half ihr zu vergessen, in welcher Lage sie sich befand.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie den vermeintlichen Mörder ihres Bruders.
»Nun, eine schöne blonde Frau deutscher Abstammung könnte ihm den Weg in die höhere Gesellschaft ebnen. Anders als die Töchter der Kaffeebarone werden Sie nicht von einem mächtigen Vater bewacht.«
Alice schlang die Arme um ihre Knie. Seine Sichtweise der Dinge klang so abgeschmackt, wie es der Heiratsmarkt gewesen war, auf dem sie als junges Mädchen angeboten worden war.
»Vielleicht hat er ja Gefühle für mich. So wie mein Bruder für Ix Chel. Warum sollte es nicht so sein?«, widersprach sie.
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie ihm
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