Der Duft des Regenwalds
einem günstigen Moment hierher.«
Alice hob ratlos die Hände.
»Aber warum gerade in mein Zimmer? Sie kennen mich kaum und …«
»Hier wird man nicht so gründlich suchen wie bei meinen Leuten. Warum sollten Sie den vermeintlichen Mörder Ihres Bruders verstecken?«
Er verstummte für einen Moment, als wäre ihm bewusst geworden, wie berechtigt diese Frage war.
»Ich hatte die Hoffnung, dass Sie mir helfen würden, so wie Patrick Sie mir geschildert hat. Wenn es Ihnen zu gefährlich ist, dann sagen Sie es, und ich verschwinde bei der nächsten Gelegenheit.«
Er ließ die Arme hängen, als wolle er dadurch seine Harmlosigkeit zum Ausdruck bringen. Alice schluckte. Wusste er, wie wirksam dieses Schauspiel war? Drohungen hätten sie nur zornig gemacht, doch indem er sich ihrer Gnade auslieferte, machte er es ihr fast unmöglich, seine Bitte nicht zu erfüllen.
»Na gut, aber vor Morgengrauen sind Sie verschwunden«, flüsterte sie. »Und falls jemand Sie entdeckt, dann werde ich sagen, Sie hätten mich bedroht und dadurch zum Schweigen gezwungen.«
Er nickte. Alice sah sich ratlos im Zimmer um, das viel zu klein war für zwei Menschen, die einander fremd waren. Wo sollte sie einen ungebetenen Gast unterbringen?
»Wenn Sie sich ein wenig ausruhen wollen, müssen Sie sich auf den Teppich legen«, sagte sie schließlich, denn sie war nicht bereit, ihr Bett einem fremden Mann zu überlassen. Andrés grinste breit.
»Keine Sorge. Ich habe meine ganze Kindheit auf Strohmatten geschlafen, die ich mit fünf Geschwistern teilen musste.«
Alice erinnerte sich an das Dorf seiner Eltern, das in der Tat einen sehr ärmlichen Eindruck gemacht hatte.
»Wie haben Sie es geschafft, von dort wegzukommen?«, fragte sie interessiert. Andrés nahm eine entspanntere Haltung auf seinem Stuhl ein.
»Anna Bernhard, Gemahlin des Patrons, bei dem meine Eltern ihre ständig wachsenden Schulden abarbeiten, hatte ein weiches Herz. Wir Kinder durften nach getaner Arbeit ihren Unterricht besuchen. Die meisten von uns waren so erschöpft, dass sie dabei einschliefen. Mir ging es am Anfang nicht anders. Ich sah keinen Grund, warum ich lesen und schreiben lernen sollte. Niemand von meinen Leuten konnte es. Es hatte nichts mit unserem Leben zu tun.«
»Irgendwann änderte es sich aber«, stellte Alice fest.
»Ja, da war ich schon zehn Jahre alt. Ich hatte in der Schule ein paar Dinge aufgeschnappt, denn mit der Zeit begann mir der Unterricht zu gefallen, auch wenn unsere Lehrerin allzu oft von Gott und Sünde und Strafe redete. Eines Tages wurde ich mit anderen Arbeitern von unserem Patron an die Pazifikküste mitgenommen. Wir sollten Säcke voller Kaffeebohnen auf kleine Boote verladen, die auf den Ozean hinausfuhren, wo ein Dampfer wartete, der sie nach Europa brachte. Ich hatte keine Ahnung, wo Europa lag. Ich hatte auch niemals zuvor einen Dampfer gesehen. Die Größe beeindruckte mich und machte mir Angst. Ich dachte, wir müssten auf den Rücken eines riesigen, schnaufenden Ungeheuers steigen. Mein Vater beruhigte mich. Es sei nur eine Maschine der Ladinos. Ihr Gott hatte ihnen erklärt, wie man solche Maschinen baut, und deshalb konnten sie unser Land an sich reißen, und wir hätten alle Schulden bei ihnen.«
Alice lächelte. Der sture alte Bock war auf seine Art recht schlau.
»Und so wurde der Ingenieur in mir geboren. Ich wollte das Geheimnis der Maschinen ergründen, die den Menschen so viel Macht verliehen. Als mein Vater sagte, nur die Ladinos könnten es verstehen, weigerte ich mich, ihm zu glauben. Ich bot mich freiwillig an, bei der Reinigung der Entpulper mitzuhelfen, eine unbeliebte, da schmutzige Arbeit, bei der man sich leicht verletzen konnte. In der Schule lernte ich wie ein Besessener. Ich beobachtete, wie die Hebel am Entpulper Zahnräder in Bewegung setzten, die die Walze bewegten, und dachte mir eine kleinere Variante aus, um meiner Mutter das Mahlen von Mais zu erleichtern. Allerdings konnte ich sie niemals bauen. Mein Vater prügelte mich windelweich, um mir den Unsinn auszutreiben.«
Wieder lachte er auf. Alice fand diese Geschichte nicht lustig, fühlte den altvertrauten Zorn. Gleichzeitig staunte sie über das Leuchten in Andrés’ Augen, als er von seiner ersten Begegnung mit technischen Geräten sprach. Sie hatte sich niemals vorstellen können, dass eine wuchtige Maschine aus Eisen einen Menschen so in Begeisterung versetzen konnte.
»Schließlich fiel dem Patron auf, wie gut ich mit seinen
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