Der Duft des Regenwalds
geflohen«, fasste sie die Erkenntnisse mit mäßiger Begeisterung zusammen. »Aber kann selbst ein Indio-Mädchen dort allein mehrere Wochen überleben? Wenn sie seitdem nicht wieder aufgetaucht ist, dann könnte sie schon tot sein.«
»Nein«, entgegnete Julio und ließ sich zu ihren Füßen nieder, »tot ist sie nicht, jedenfalls war sie es letzte Woche noch nicht. Da hat ihr Bruder sie nämlich besucht.«
»Jetzt hör auf, in Rätseln zu reden, und sag mir endlich, wo man sie finden kann«, rief Alice, die ungeduldig wurde. Als sie seinen abwartenden Blick wahrnahm, verstand sie und drückte ihm eine weitere Münze in die Hand.
»Diese Ix Chel ist bei Verwandten, die im Dschungel leben. Nicht immer an derselben Stelle, denn sie ziehen herum, sind aber klug genug, sich von Ladinos fernzuhalten, sodass man sie nicht in eine Montería verschleppen konnte. Nur ein paar Leute aus Ix Chels Dorf wissen, wo man sie findet. Das sollen noch richtige Heiden sein, Señorita, die noch niemals einen Pfarrer zu Gesicht bekommen haben.«
Er schüttelte den Kopf, als sei die Vorstellung von Indianern, die noch in der Art ihrer Vorfahren lebten, für ihn noch schwerer zu glauben als für Alice.
»Und wie hast du das herausgefunden, wenn es ein Geheimnis ist?«, fragte sie, denn sein reger Geschäftssinn hatte ihr Misstrauen geweckt.
»Ganz einfach.« Er streckte stolz das Kinn vor. »Ich habe in dem Dorf ein paar Freunde gefunden, Gerüchte aufgeschnappt und etwas genauer nachgefragt. Der Bruder von dieser Ix Chel trinkt gern Aguardiente. Ich habe etwas besorgt, von dem Geld, das Sie mir immer geben, und da hat er geplaudert. Ich habe ihm alles erzählt, also, dass Sie die Schwester von dem Gringo sind, mit dem seine Schwester zusammen war. Er hat versprochen, dass er sie fragen wird, ob sie Sie sehen will. Aber …«
Er überlegte einen Moment, neigte den Kopf zur Seite und fuhr schließlich fort: »Ich glaube, wenn Sie ihm genug Geld für mehr Aguardiente versprechen, dann bringt er Sie zu ihr hin, auch wenn seine Schwester nicht einverstanden ist. Aber das sage ich nur, weil ich weiß, dass Sie nett sind, Señorita, und dass Sie dem Mädchen nichts tun.«
Alice strich ihm mit der Hand über die Schulter. Es rührte sie, dass er so positiv über sie sprach.
»Ich will nur mit ihr reden, nichts weiter«, versicherte sie. »Sie kann in diesem Dschungeldorf bleiben, wenn sie möchte.«
»In dem Fall warten wir ab, was der Bruder sagt. Er versprach, in zwei Wochen hier zu sein, wenn seine Schwester mit einem Treffen einverstanden ist.«
Alice musste tief durchatmen. In den letzten Tagen waren ihre Gedanken vor allem um die Frage gekreist, was sich unter dem Tempel der Inschriften verbergen konnte. Nun wurde sie wieder mit der Realität ihrer Sorgen konfrontiert. Die Möglichkeit, Patricks Geliebter gegenüberzutreten, die vielleicht auch die Umstände seines Todes kannte, war in greifbare Nähe gerückt. Ungeduld kroch kribbelnd bis in ihre Fingerspitzen. Sie sprang auf.
»Ich muss mit Andrés reden!«
Sie trat zu den Stufen, dann wurde ihr bewusst, dass es einen merkwürdigen Eindruck machen würde, wenn sie in die Grabungsarbeiten hineinplatzte, um ihn zur Seite zu ziehen.
»Hast du auch die Vorräte mitgebracht?«, fragte sie Julio.
»Natürlich, Señorita. Zwei Esel mit Säcken. Mais, Eier, Obst und Gemüse, ganz wie man mir aufgetragen hatte.«
Wieder klang er stolz. Alice überlegte, dass dieser Junge ein Gewinn für jeden Händler oder Geschäftsmann wäre, der eine zuverlässige Hilfskraft brauchte. Und wenn er die Chance auf eine gewisse Schulbildung bekäme, dann könnte er eines Tages seinen eigenen Laden führen. Sie beschloss, ihm dies zu ermöglichen, sobald sie Patricks Erbe erhalten hatte.
»Geh jetzt zu dem Tempel schräg gegenüber, dort, wo alle Arbeiter sind«, wies sie ihn an. »Sag Dr. Scarsdale, dass die Vorräte da sind. Und bei der Gelegenheit teile Andrés Uk’um mit, dass ich dringend mit ihm reden muss.«
Er stellte keine Fragen, sprang auf und lief los. Mariana trabte ihm hinterher, doch als Alice sie rief, kam sie wieder zurück.
Alice packte ihren Skizzenblock ein, denn sie war nicht mehr in der Lage, sich zu konzentrieren. Zwei Wochen, hatte Julio gesagt, dann träfe vielleicht Ix Chels Bruder ein. Sie ahnte, dass ihr diese Zeit wie eine Ewigkeit vorkommen würde.
Andrés erschien erst am späten Nachmittag, da Dr. Scarsdale ihn vorher nicht entbehren konnte. Alice hatte indessen
Weitere Kostenlose Bücher