Der Duft des Regenwalds
versuchte gar nicht erst, sich auszumalen, was nun auf sie zukam. Sie würde sich jedem Tag aufs Neue stellen, beschloss sie, und auf das Wissen ihrer zwei Begleiter vertrauen, sobald die ersten Schwierigkeiten auftauchten. So tat sie einen Schritt nach dem anderen, drang immer tiefer in dieses gewaltige, fremde Reich ein, in dem die Natur noch alle Regeln bestimmte und der Mensch ein ganz gewöhnliches, hilfloses Lebewesen unter vielen war.
An manchen Stellen war das Geäst der riesigen Bäume so dicht, dass es fast alles Tageslicht aussperrte und eine düstere Stimmung verbreitete, als würde bald schon ewige, finstere Nacht heraufziehen. Dann wieder drang gleißendes Sonnenlicht durch das Dach aus Blättern und Ästen, sodass die feuchte Erde zu dampfen schien. Alice gewöhnte sich daran, dass ununterbrochen Schweiß an ihrem Körper hinabrann. Da ihre Begleiter entschlossen voranschritten, wagte sie nicht, um Ruhepausen zu bitten, denn sie wollte ihnen nicht zur Last fallen. Ihre Füße begannen nach ein paar Stunden so unerträglich zu schmerzen, dass sie sich bei jedem Schritt auf die Lippe beißen musste. Ihr fiel auf, dass Andrés sich immer wieder zu ihr umdrehte und Manuel dann etwas zurief. Das Tempo, das ihr Anführer vorgab, verlangsamte sich dann ein wenig, ohne dass sie selbst darum hätte betteln müssen. Zweimal stolperte Alice über eine Baumwurzel und wurde von Andrés wieder auf die Beine gestellt. Manuel drehte sich nur kurz um und gab Alice durch seinen Blick das Gefühl, nichts weiter als ein lästiges Anhängsel zu sein. Trotzig schleppte sie sich weiter, obwohl die Riemen der Huaraches ihre Füße blutig gescheuert hatten. Am zweiten Tag ging es erstaunlicherweise besser, als seien ihre Füße abgestorben und dienten ihr nur noch als Werkzeuge, die nicht zu ihrem Körper gehörten. Die zwei Männer liefen mit unermüdlicher Energie voran, und Alice fragte sich, ob es irgendeine Strapaze gab, die diese zähen Indios nicht ertragen konnten.
Mit der Zeit vermochte sie genauer auf ihre Umgebung zu achten, die anfangs nur übermächtig und Furcht einflößend gewirkt hatte. Nun entdeckte sie die verschiedensten Gewächse zu Füßen der riesigen Bäume, die an ihnen hochkrochen oder bescheiden in ihrem Schatten lebten. Ein unermesslicher Reichtum an Formen und Farben von Blüten tat sich vor ihr auf, doch ihr fehlten die Zeit und auch die Utensilien, um Skizzen anzufertigen. Sie versuchte, diese Bilder in ihr Gedächtnis zu meißeln, denn sie machten ihre mühselige Wanderung zu einem einzigartigen Erlebnis. An manchen Stellen duftete es betörend süß, dann wieder glaubte sie, den Gestank von Fäulnis einzuatmen. Tausende von Tieren mussten hier ihr Zuhause haben, doch nur ein gelegentliches Zischen, Fauchen und Pfeifen deutete auf ihre Existenz hin, denn sie schienen zu wissen, dass Menschen nicht hierhergehörten und man sich von ihnen fernhalten sollte. Gelegentlich flatterten bunte Vögel durch das Dickicht der Äste. Als Alice einmal sehr deutlich Blicke in ihrem Rücken spürte, drehte sie sich erschrocken um und sah mehrere braune Affen durch das Geäst schwingen, bevor der dichte Wald sie verschlang. Ganz allein waren sie hier wohl nie. Andrés hatte auf die Gefahr von Jaguaren hingewiesen, weshalb nachts stets ein Lagerfeuer brennen sollte, auch wenn es nicht besonders kalt war.
Am Abend des zweiten Tages taten sich plötzlich Licht und Weite inmitten der Dichte des Regenwalds auf. Wassermassen schossen tosend wie eine Urgewalt durch das Reich der Bäume. Die Luft war von Rauschen erfüllt, und Alice meinte, das Wasser einzuatmen, so intensiv war die Feuchtigkeit.
»Das ist der Usumacinta«, sagte Andrés. »Er trennt Mexiko von Guatemala. Auf ihm werden die gefällten Mahagonibäume transportiert. Und wir werden auch eine Weile auf ihm fahren.«
Bevor Alice weitere Fragen stellen konnte, hatte Manuel ein Boot auf das Wasser geschoben. Es musste am Ufer gelegen haben, vermutlich nutzte er es regelmäßig, um zu seiner Schwester zu gelangen. Es schien aus einem einzigen Stamm geschnitzt, da es weder Schrauben noch Seile aufwies, und wirkte primitiv. Die Aussicht, wenigstens eine Weile sitzend zubringen zu dürfen, trieb Alice Tränen der Erleichterung in die Augen. Sie stieg ohne Murren in das schmale Gefährt, das von Manuel mit einem der Ruder auf den Fluss geschoben wurde. Solange es genug Licht gab, fuhren sie stromaufwärts. Der Urwald schien, vom Wasser aus betrachtet, noch
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