Der Duft des Regenwalds
Dorf ist jetzt empört und wird uns mit Steinen bewerfen, nur weil wir nicht gleich wieder herauskommen?«
Ein Lachen entspannte sein Gesicht. Er drückte Alice langsam auf die Petate. Seine Bewegungen schienen sicherer geworden zu sein. Alice krallte ihre Finger in seine Schultern. Jenseits der dünnen Mauern der Hütte gackerten Hühner, quiekten Schweine, und Frauenstimmen waren zu hören. Sie wussten beide, dass sie sich still verhalten mussten, denn auch Alice wäre es unangenehm gewesen, wenn das ganze Dorf Zeuge ihres Treibens würde. Aber genau dieses Wissen, wenig Zeit für sich zu haben, schenkte dem Verschmelzen ihrer Körper mehr Intensität.
Alice wusch sich mit dem restlichen Wasser, das sie noch im Eimer fand, erneut rasch ab, bevor sie wieder in ihre verschwitzte Kleidung schlüpfte und vor die Hütte trat. Andrés hatte diese bereits eine Weile vorher verlassen, denn Hand in Hand hinauszuspazieren wäre allzu auffällig gewesen. Er saß neben der webenden alten Frau und ihren Enkelinnen. Auf den vertikalen Kettfäden waren bereits zwei Fingerbreit Stoff gewachsen, ein Mädchen hantierte mit roten und blauen Fäden, um die Muster zu gestalten, während das andere immer wieder energisch das Schiffchen nach unten schob. Beide standen unter strenger Aufsicht ihrer Großmutter, die fast jede ihrer Bewegungen mit einem Wortschwall kommentierte. Alice fühlte sich an Tante Grete erinnert, die ihr stets das Gefühl gegeben hatte, dass kein einziger Benimmfehler unbeobachtet bliebe. Bei Handarbeiten hatte Alice sich allerdings sehr geschickt angestellt, obwohl sie das Zeichnen vorgezogen hatte.
Sie wurde von Andrés herangewunken und setzte sich. Seine Nähe nahm ihr etwas von dem Gefühl, eine unerwünschte Fremde zu sein, Angehörige eines Volkes, das den Indianern bisher nichts als Unglück und Elend gebracht hatte. Der Blick der alten Ix Chel streifte sie, wissend und leicht verschmitzt.
»Muk!«, sagte sie plötzlich, während sie den Finger hob und auf Alice deutete. »Muk ta Patrick!«
Alice zuckte zusammen. Ihr Herz schlug heftig.
»Was hat sie gesagt?«, fragte sie Andrés und packte ihn am Ellbogen. »Was hat sie über meinen Bruder gesagt?«
»Sie hat nur erkannt, dass du seine Schwester bist«, entgegnete er mit einem mahnenden Blick. »Und sie spricht Tzotzil. Das macht die Dinge etwas einfacher, denn so kann ich besser mit ihr reden.«
Es folgte ein reger Wortwechsel in der harten, kehligen Sprache. Die zwei Mädchen konnten endlich unbeaufsichtigt ihre Webarbeit fortsetzen, da ihre Großmutter abgelenkt war. Alice rutschte nervös auf dem ausgetrockneten Boden hin und her. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an mögliche Schlangen und Insekten, wünschte sich nur, Andrés möge ihr endlich mitteilen, worüber sie sprachen.
Eine gefühlte Ewigkeit verging, bevor die alte Ix Chel wieder auf ihre Enkeltöchter einzureden begann und Andrés sich ihr endlich zuwandte.
»Sie weiß, wo ihre Tochter ist«, sagte er. »Und sie hat sich gedacht, dass du hier bist, um sie zu sehen.«
Alice konnte sich nur mühsam zurückhalten, um nicht gleich auf die Alte zuzustürmen und sie mit Fragen zu überschütten, die sie ohnehin nicht verstanden hätte. Vermutlich wusste Andrés viel besser, wie nun vorzugehen war.
»Wird sie mir helfen, zu ihrer Tochter zu kommen?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Ich denke, das wird sie. Wie ich schon sagte, sie scheint dich zu mögen, sonst hätte sie nicht so offen mit uns gesprochen. Aber sie selbst kann uns nicht durch den Dschungel führen. Wir müssen warten, bis ihr Sohn zurückkommt. Dann wird sie mit ihm reden.«
Alice unterdrückte einen Seufzer der Ungeduld.
»Wie lange wird er unterwegs sein?«
»Das weiß ich nicht. Er läuft mit seiner Frau zu Fuß in die nächste Stadt, um dort Waren zu verkaufen. Wenn wir Glück haben, ist er morgen wieder da.«
Mit großer Mühe zwang Alice sich zur Ruhe und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Allzu gern hätte sie sich allein mit der alten Ix Chel unterhalten, die ihr vielleicht mehr über Patricks Beziehung zu ihrer Tochter hätte erzählen können. Sie wusste, dass es Dinge gab, über die Frauen lieber mit anderen Frauen sprachen, doch sie war auf Andrés angewiesen. Dann fiel ihr plötzlich ein, dass sie mit ihrer Vermutung, wo die verschwundene Geliebte ihres Bruders sich aufhielt, recht gehabt hatte. Vielleicht waren auch ihre anderen Annahmen nicht falsch.
»Frag sie, was der Name Ix Chel bedeutet.
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