Der Duft des Regenwalds
bewusster Mann. Seine Schultern sackten herab, als habe er Prügel bezogen, und er wollte rasch zu den Büschen huschen, hinter denen sich seine Frau versteckte, als ein erneuter schriller Ruf seiner Mutter ihn zurückhielt. Nach kurzem Zögern ging er zu ihr und versuchte erfolglos, eine trotzige Haltung anzunehmen.
Die alte Frau redete ruhig mit ihm. Manuel widersprach nicht, sah verlegen zu Boden und versuchte vergeblich, sich abzulenken, indem er die Hühner beobachtete. Schließlich senkte er den Kopf und knurrte ein paar Worte, bevor er entlassen wurde, um nach seiner Frau zu sehen.
Die alte Ix Chel wandte sich an Andrés, der bald darauf für Alice übersetzte, dass Manuel sie beide zu seiner Schwester bringen würde. Am nächsten Tag sollten sie aufbrechen.
Alice wusste, dass all ihre Reisen durch Mexiko sicher und bequem gewesen waren im Vergleich zu dem, was ihr nun bevorstand. Dass sie kein Geld mehr hatte, war unbedeutend, denn im Dschungel hätte es ihr ohnehin nichts genützt. Andrés erklärte, dass es feste Routen gab, doch diese führten meist zu den Monterías, wurden von Aufsehern benutzt, die Indios dort hintrieben, oder auch von Händlern, die an solchen Orten Geschäfte machen wollten. Aber diesen Leuten wollten sie unterwegs nicht begegnen. Alice war klar, dass sie nicht in der Lage wäre, zwei indianische Begleiter zu schützen. Der Umstand, dass sie allein mit ihnen unterwegs war, konnte ausreichen, damit viele Männer dieses Landes sie für eine Frau hielten, die keinerlei Anspruch auf respektvolle Behandlung hatte. Manuel kannte den Weg, wiederholte sie immer wieder wie einen Gebetsspruch. Er hatte seine Schwester schon häufiger besucht und würde es diesmal auch in Begleitung schaffen. Sie selbst musste allerdings versuchen, den zwei Indios unterwegs keine unnötige Last zu sein.
Sie brachen bereits im Morgengrauen auf. Diesmal gab es keinen Packesel, denn die einzigen zwei Bündel wurden von Andrés und Manuel getragen. Die alte Ix Chel hatte Tortillas eingepackt, von denen sie sich unterwegs ernähren konnten. Ansonsten bekam jeder der Männer ein Messer, das er sich um den Gürtel schnallte. Mehr wurde angeblich nicht gebraucht, denn Manuel war in der Lage, im Dschungel mit einer Steinschleuder oder einem Holzspeer Tiere zu erlegen. Alice erhielt von Ix Chel einen neuen Rock aus dickem, schwarzem Leinen und eine jener bunt bestickten Blusen, wie sie von Indianerinnen getragen wurden, denn ihre eigene Kleidung war bereits stark verschmutzt und teilweise zerrissen. Sie begriff den Sinn dieses Geschenks nicht sofort, erst als Andrés die Kleidungsstücke zusammenrollte und in sein Bündel packte, wurde ihr klar, dass sie der Geliebten ihres Bruders nicht dreckig und zerlumpt gegenübertreten sollte. Dadurch in ihrer Eitelkeit ermutigt, beharrte sie darauf, auch einen Kamm mitzunehmen. Zudem wurde Kampferpulver eingepackt, das gegen Mückenstiche half.
Dann folgte der Abschied von Manuels Familie. Maruch, deren rechte Wange einen blaugrünen Fleck aufwies, warf ihrem Mann nur einen kühlen Blick zu und wich vor seiner zaghaft angedeuteten Berührung zurück. Der Kazike musterte seinen Sohn und dessen Begleiter stumm und drückte durch ein Kopfnicken aus, dass er ihren Aufbruch zur Kenntnis nahm. Die zwei kleinen Mädchen hingen an den Rockschößen ihrer Mutter und betrachteten den Vater aus großen, dunklen Augen. Sie mussten es gewöhnt sein, dass er regelmäßig fortging, und Alice fragte sich, wie sehr sie den häufig betrunkenen, prügelnden Mann wirklich vermissten. Allein die alte Ix Chel redete fast ununterbrochen, schien ihren Sohn regelrecht mit Ratschlägen zu überschütten und warf auch immer wieder hastige Blicke auf seine zwei Reisegefährten. Schließlich baute sie sich vor Alice auf, klopfte ihr kurz auf die Schulter und sagte ein paar unverständliche Worte.
»Sie sagt, du sollst auf uns aufpassen. Männer machen oft Unsinn«, übersetzte Andrés. Alice hätte fast gelacht, so absurd schien ihr diese Aufforderung. Sie selbst war völlig hilflos in dem Regenwald und brauchte Manuel und Andrés weitaus nötiger, als es umgekehrt der Fall war. Doch etwas an dem forschen, zahnlosen Lächeln dieser kleinen Frau sorgte dafür, dass ein Knoten in ihrer Kehle sich löste und sie wieder ruhiger atmen konnte. Auf einmal traute sie es sich zu, auch diese Reise heil zu überstehen, so wie bisher all ihre Abenteuer in diesem Land.
Und so marschierten sie schließlich los. Alice
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