Der Duft des Regenwalds
gewaltiger. Alice hatte den Eindruck, als bestünde die Welt nur noch aus gigantischen Bäumen, über denen ein langsam verdunkelnder Himmel lag. Das Licht der Gestirne spiegelte sich auf der schwarzen Wasserfläche. Alice wusste, dass hier zahlreiche Gefahren lauerten, doch der Anblick war zu überwältigend, um Angst zu bekommen. Bevor es völlig finster wurde, tat sich eine flache, von Gewächsen befreite Stelle am Ufer auf, wo eine kleine Holzhütte an den Baumstämmen lehnte. Alice freute sich, dass sie in dieser Nacht ein Dach über dem Kopf haben würde.
Ihre Begleiter unterhielten sich leise, aber aufgebracht, während sie auf das Ufer zufuhren. Sie sprang als Erste aus dem Boot. Die ersten Schritte auf festem Boden waren eine Wohltat.
»Ich halte es für keine gute Idee, in der Hütte zu schlafen«, sagte Andrés im Hintergrund.
»Warum?«, fragte Alice.
»Weil sie sicher von Aufsehern aus einer Montería errichtet wurde, die hier regelmäßig haltmachen.«
Alice erschauderte.
»Dann sollten wir vielleicht …«
Sie sah sich ratlos um, konnte die Umgebung jedoch nur noch als dunkle Schatten wahrnehmen. Bald schon würden sie keine Hand vor Augen mehr sehen können und hatten daher nicht die Möglichkeit, sich weit von dieser Hütte zu entfernen. Manuel stieß bereits ungeduldig die Tür auf. Alice folgte nach kurzem Zögern. Kein vernünftiger Mensch war nachts im Dschungel unterwegs, sagte sie sich. Sie mussten nur im allerersten Morgengrauen aufbrechen, dann wären sie nicht in Gefahr.
Die Hütte war klein, doch es befanden sich ein paar Matten darin, die Andrés aufrollte. In der Ecke standen ein paar lederne Flaschen. Manuel stöpselte sie alle auf, schnupperte kurz daran und begann dann gierig zu trinken.
»Aguardiente«, flüsterte Andrés Alice ins Ohr. »Deshalb wollte er hier haltmachen. Er trinkt wohl regelmäßig die Flaschen leer, wenn er zu seiner Schwester unterwegs ist.«
Ein leises Lachen drang aus Alice’ Kehle.
»Bisher hat ihn offensichtlich noch niemand erwischt«, sagte sie und drückte beruhigend Andrés’ Hand. Sein Gesicht war kaum noch zu erkennen, doch sie war sich sicher, dass er die Stirn runzelte.
»Mir gefällt das nicht. Ich würde lieber draußen übernachten.«
Sie stieß einen Seufzer aus, lauschte geduldig seinem erneuten Wortwechsel mit Manuel und ließ sich dann von ihm ins Freie ziehen. Hinter dem nächsten großen Baum rieben sie beide ihre Körper mit Kampfer ein und legten sich auf die Erde.
»Hier können wir von Schlangen und Skorpionen gebissen werden«, murrte Alice und schmiegte sich an seinen Rücken.
»Die kommen auch in die Hütte«, entgegnete er. »Doch die Aufseher werden nicht hinter jeden Baum spähen.«
Alice schloss schicksalsergeben die Augen. Sie hatte bereits ein paar Nächte im Freien überstanden, und die Nähe von Andrés gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Aus der Hütte drangen noch Geräusche, die im nächtlichen Dschungel unangenehm laut schienen. Vermutlich trank Manuel, stieß im Dunkeln gegen die Wände oder warf die paar Gegenstände um. Alice fragte sich, in welcher Verfassung er wohl am nächsten Morgen sein würde, da sie früh aufbrechen wollten. Sie hätte selbst nichts gegen ein paar Schlucke von Aguardiente einzuwenden gehabt, der sich mit beruhigendem Brennen in ihrem Körper verbreiten würde, um ihr das Einschlafen zu erleichtern, doch sie vertraute auf Andrés’ Urteilsvermögen. Im Dschungel konnte getrübte Wahrnehmung eine Gefahr darstellen.
Auf einmal sah sie ein kleines Dorf inmitten des Dschungels und ahnte, dass sie träumte. Menschen in schlichten, weißen Kitteln liefen herum. Männer wie Frauen sahen aus, als trügen sie Nachtgewänder, und alle hatten pechschwarzes, langes Haar, das offen über ihre Schultern fiel. Sie plauderten, sammelten Holz, Männer schärften Speere, und Frauen hockten vor Kochtöpfen. Am Hals eines Mädchens, das über einen einfachen Webstuhl gebeugt war, blitzen bunte Steine auf.
»Ix Chel!«, rief Alice. Sie war sich nicht sicher, ob diese Leute sie sehen konnten, denn bisher hatte sich niemand überrascht gezeigt. Das Mädchen aber hob den Kopf und wandte ihr ein offenes, lächelndes Gesicht zu, als freue sie sich über den unerwarteten Besuch. Alice wurde leicht ums Herz. Sie hatte das Ziel ihrer Reise erreicht, stand der Geliebten ihres Bruders gegenüber. Trotz all der Fragen, die sie seit fast zwei Monaten mit sich herumschleppte, vermochte sie nichts zu sagen.
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