Der Duft des Regenwalds
verlassen würden, doch er begann mit jedem Tag etwas weniger furchteinflößend zu werden.
Sie gingen langsam dahin. Alice stellte fest, dass sie an Zähigkeit gewann, denn allmählich konnte sie mit Andrés Schritt halten. Sie lernte, Agavenblätter zu pflücken und ein Lagerfeuer anzuzünden, während er mit seiner Steinschleuder unterwegs war. Nicht immer erwies seine Jagd sich als erfolgreich, doch er zeigte ihr, welche Früchte essbar waren, sodass sie selbst Nahrung sammeln konnte. Es erstaunte sie, dass sie tatsächlich in der Lage schien, in dieser Wildnis zu überleben. Während sie gemeinsam durch das Dickicht liefen, sprachen sie kaum miteinander, trotzdem wuchs eine Verbundenheit zwischen ihnen, die an einem anderen Ort vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Obwohl sie nachts manchmal von weichen Betten, Tassen mit duftendem Kaffee und elegant eingerichteten Räumen träumte, empfand sie kein Entsetzen, im Regenwald aufzuwachen, sobald Andrés sich über sie beugte.
Am dritten Tag ihrer Wanderschaft bekam Alice am Nachmittag Kopfschmerzen. Sie führte dies auf die feuchte Hitze zurück, obwohl sie bisher kaum darunter gelitten hatte, und hoffte, sich besser zu fühlen, sobald die Abenddämmerung hereinbrach. Sie wollte Andrés gerade um eine kurze Pause bitten, als plötzlich ein heftiger Krampf ihre Eingeweide erfasste und sie in die Knie zwang. Mit einer Hand hielt sie sich an einem Ast fest und erbrach die Bananen, die sie kurz zuvor gegessen hatte. Andrés war sogleich an ihrer Seite, um sie zu stützen. Sie ahnte, dass es ihr früher unangenehm gewesen wäre, von einem Liebhaber in einer solchen Lage beobachtet zu werden, doch hier im Dschungel herrschten andere Regeln.
»Ich habe irgendetwas gegessen, das nicht gut war«, sagte sie, als sie sich verlegen den Mund abwischte. Ihr Kopf schmerzte inzwischen so heftig, dass sie meinte, er könnte jeden Moment zerspringen. Sie war sich nicht sicher, ob sie allein stehen könnte. Und niemals hätte sie gedacht, dass es möglich war, in diesem Land derart zu frieren. Etwas stimmte nicht, mahnte eine leise Stimme im Kopf. Etwas mit ihr war ganz und gar nicht in Ordnung.
Sie ließ zu, dass Andrés sie auf den Boden setzte wie ein hilfloses Kind. Wieder verkrampfte sich ihr Magen, und diesmal schrie sie vor Schmerz, obwohl sie nur noch Galle erbrach. Andrés strich ihr beruhigend über den Rücken, doch sie konnte deutlich die Sorge in seinen Augen sehen.
»Ich brauche nur eine Pause. Gleich geht es wieder«, versicherte sie, obwohl sie kaum die Kraft besaß, sich aufzurichten. Auf einmal war der Dschungel wieder eine fremde, gefährliche Welt geworden, und vor Sehnsucht nach ihrem kleinen, schäbigen, vertrauten Zimmer in Charlottenburg schossen ihr Tränen in die Augen.
Andrés legte seine Hand auf ihre Stirn, und sie konnte sehen, wie seine Kiefer sich verkrampften.
»Du hast Fieber«, stellte er fest. »Ziemlich hohes, würde ich sagen.«
Alice lehnte sich an einen Baumstamm. In ihrem Kopf brannte ein Feuer, aber wenigstens ihr Magen schien sich beruhigt zu haben.
»Es musste ja irgendwann geschehen«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Seit ich in Mexiko angekommen bin, habe ich immer wieder gehört, dass Europäer hier erst einmal richtig krank werden. Ich habe lange durchgehalten, findest du nicht?«
Er stimmte nicht in ihr Lächeln ein.
»Du musst trinken«, meinte er. »Ich helfe dir, zum Fluss zu kommen.«
Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie in die Höhe. Alice wollte mithelfen, aber ihre Beine hatten alle Kraft verloren, sodass sie wie ein schwerer Sack in seiner Umarmung hing. Der Weg zum Flussufer schien endlos, der Dschungel war zu einem Gefängnis geworden. Andrés füllte den Becher und hielt ihn an ihre Lippen. Sie trank zwei Schlucke, dann setzten die Magenkrämpfe wieder ein und machten sie zu einem hilflos wimmernden Bündel aus Schmerz und Elend.
»Ich will nach Hause«, flüsterte sie. »Heim. Weg von hier.«
Ihr wurde bewusst, dass sie auf Deutsch gesprochen hatte und Andrés sie nicht verstehen konnte. Sein Gesicht drückte nichts als Sorge aus, als er mit einer nassen Hand über ihr Gesicht strich.
»Wir warten hier bis zum Morgen. Hoffentlich geht es dir dann besser«, murmelte er und legte sich an ihre Seite. Als Alice vor Kälte zu schlottern begann, zog er sein zerfetztes Hemd aus, um sie zuzudecken. Dann zündete er ein Lagerfeuer in der Nähe an.
»Man kann uns sehen. Vom Fluss aus. Vom
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