Der Duft des Regenwalds
Proviant mitzunehmen. Daher erwarteten sie hungrig Andrés’ Rückkehr. Sie begannen bereits zu befürchten, er käme erst am nächsten Tag zurück, da hörte Ix Chel das Hufklappern eines Pferdes und forderte Patrick auf, sich mit ihr zu verstecken, denn es gab zahlreiche Banditen in den Bergen der Sierra Madre. Rasch krochen sie hinter einen Felsen, doch es war keine Zeit mehr, das Lagerfeuer zu löschen. Der Reiter brachte unmittelbar daneben sein Pferd zum Stehen und stieg ab. Er schien allein zu sein, war daher selbst vorsichtig und suchte zunächst die Gegend ab. Dabei musste er das Buch auf dem Boden entdeckt haben, denn Patrick hatte es in der Hast liegen lassen. Nun rief der fremde Neuankömmling seinen Namen.
Ix Chels Malalil erkannte den Mann an seiner Stimme, deshalb verließ er sein Versteck. Ix Chel blieb vorsichtshalber hinter dem Felsen sitzen, denn sie hatte ein ungutes Gefühl. Gewöhnlich reisten Menschen nicht nachts allein in der Sierra Madre herum. Sie hörte, wie beide Männer miteinander in einer Sprache redeten, die sie nicht verstand und die auch nicht wie das Spanisch der Ladinos klang. Zunächst unterhielten sie sich ruhig, doch dann wurde aus dem Gespräch recht schnell ein heftiger Streit. Schließlich rangen sie miteinander. Ix Chel sah eine Gestalt fallen und reglos auf dem Boden liegen bleiben. Sie erkannte, dass es Patrick war, und musste sich eine Faust auf den Mund pressen, um nicht laut aufzuschreien. Der andere Mann hockte eine Weile neben Patrick, rief immer wieder seinen Namen und schüttelte ihn. Erst als jede Reaktion ausblieb, legte er ihn auf das Pferd, das er dann langsam fortführte. Ix Chel blieb in ihrem Versteck sitzen, bis sie keine Schritte mehr hören konnte. Dann begann sie zu laufen, stolperte immer wieder und schlug sich die Knie auf. Vor Tränen konnte sie nichts mehr sehen. Die Götter hatten sie zur Gefährtin des netten Caxlán gemacht, aber als seine Beschützerin in der ihm fremden Welt hatte sie versagt. Sie wusste nicht, wohin sie gehen und wie sie weiterleben sollte. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Frau ihren Mann schon früh verlor, aber niemand hatte Ix Chel auf den Schmerz vorbereitet, den ein solcher Verlust auslösen konnte. Schließlich blieb sie einfach liegen, bereit, darauf zu warten, bis ein Jaguar sie fraß oder ein Erdgeist sie in sein finsteres Reich zerrte. Doch nichts dergleichen geschah. Im Morgengrauen wurde sie von Tzotzils aus einem nahe gelegenen Dorf gefunden und mitgenommen.
Alice verbarg das Gesicht in den Händen. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt, doch als Andrés tröstend eine Hand auf ihre Schulter legen wollte, wehrte sie ihn ab. Sie wusste, wer Patrick im Auftrag von Rosario Bohremann getötet hatte. In den letzten Monaten war sie die Geliebte eines Lügners geworden, aber schlimmer noch, auch die eines Mörders.
»Juan Ramirez!«, rief sie auf Deutsch. »Er würde alles tun, was seine Schwester verlangt. Er hat Patrick getötet, nicht wahr? Er war es!«
Ix Chels Augen waren groß und rund wie die einer Eule. Zaghaft hob sie eine Hand in Alice’ Richtung, ließ sie aber wieder sinken.
»Nein«, sagte sie dann in ihrem schwer verständlichen Deutsch. »Nicht Don Juan. El doctor.«
Alice schüttelte ungläubig den Kopf.
»Dr. Scarsdale? Aber warum sollte er? Das muss ein Irrtum sein, es war dunkel, du konntest kaum etwas sehen.«
»El doctor«, wiederholte Ix Chel eisern.
»Sie kannte seine Stimme«, sagte Andrés auf Englisch. Zwar hatte er Alice’ Gespräch mit Ix Chel nicht verstehen können, wohl aber den Namen.
»War sie sich denn sicher, dass Patrick tot war, als er fortgebracht wurde?«, flüsterte Alice fassungslos. »Und wieso … ich meine, er wurde auf der Straße zur Plantage gefunden, und jemand hatte … jemand hatte ihm …«
Sie vermochte das Grauen, das ihrem Bruder angetan worden war, nicht auszusprechen. Wohin nur hatte Dr. Scarsdale ihn gebracht?
Wieder folgte ein kurzer Wortwechsel zwischen Andrés und Ix Chel.
»Sie weiß nichts mehr«, übersetzte er schließlich. »Sie versteckte sich in dem Dorf, dann tauschte sie den Ring, den Patrick ihr geschenkt hatte, gegen eine Rückreisemöglichkeit in ihre Heimat. Sie hatte große Angst vor Dr. Scarsdale, vor Hans Bohremann, vor allen Ladinos. Sie hörte Gerüchte, dass ich als der Mörder ihres Mannes galt und gesucht wurde, aber sie wusste, niemand würde ihr glauben, wenn sie mich verteidigte. Schließlich gelangte sie nach Hause,
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