Der Duft des Regenwalds
man dich erkennt.«
Andrés schwieg, was ihre Niedergeschlagenheit verstärkte. Sie hatte erreicht, was sie fast zwei Monate lang angestrebt hatte, war der verschollenen Geliebten ihres Bruders begegnet und hatte endlich erfahren, wer sein Mörder war. Aber nun wusste sie nicht weiter.
»Ich könnte mich erst einmal hier verstecken, so wie Ix Chel«, schlug Andrés nach einer Weile vor. »Du kannst zu Hans Bohremann zurückgehen und versuchen, ihn von Dr. Scarsdales Schuld zu überzeugen.«
»Und wenn er mir nicht glaubt?«
Andrés seufzte.
»Ich hatte dich von Anfang an gewarnt, dass es dir vielleicht nichts nützen wird, die Wahrheit zu erfahren. Du allein kannst hier nicht für Gerechtigkeit sorgen. Wenn Hans Bohremann dich nicht unterstützt, dann tue, wozu dir alle von Anfang an geraten haben. Fahre wieder nach Deutschland, wo du in Sicherheit bist. Vielleicht kann dir irgendein deutscher Anwalt helfen, gegen Dr. Scarsdale vorzugehen. Ansonsten musst du dich damit abfinden, dass Patricks Tod ungesühnt bleibt.«
Sie stieß einen Protestschrei aus und unterdrückte mühsam den Wunsch, auf ihn einzuschlagen.
»Das kann ich nicht«, sagte sie nach ein paar Atemzügen. »Ich würde verrückt werden. Bevor ich einfach nach Hause fahre, gehe ich lieber selbst zu Dr. Scarsdale und stelle ihn zur Rede.«
Andrés schüttelte energisch den Kopf.
»Das wäre Irrsinn. Er ist sehr wahrscheinlich ein Mörder und könnte versuchen, dich ebenfalls aus dem Weg zu räumen.«
Alice vergrub das Gesicht in den Händen und zwang sich mit aller Kraft, ruhig zu überlegen.
»Er ist ein Verstandesmensch, kein brutaler Schläger. Ihm geht es um seine Ausgrabungen«, sagte sie. »Ich darf ihn nicht offen bedrohen, müsste ihn in ein Gespräch verwickeln, und … und vielleicht kann ich ihm eine Falle stellen, um ihn zu überführen.«
Sie war im Augenblick zu erschöpft und verwirrt, um einen genauen Plan auszuhecken, vertraute aber auf ihr Einfallsvermögen.
»Stelle ihn erst zur Rede, wenn ihr beide wieder auf Hans Bohremanns Hazienda seid. Dort kann er dir nicht viel anhaben«, riet Andrés ihr. Dann wagte er, seine Hand nach ihr auszustrecken, und diesmal wich sie nicht zurück.
»Ich werde dich nach Palenque begleiten, wenn du möchtest. Aber zu Hans Bohremann kann ich dir nicht folgen. Ich werde wieder im Dschungel verschwinden. Ich glaube, hier bin ich erst einmal sicher. Ebenso wie Ix Chel.«
Sie sah ihn staunend an.
»Es war doch niemals dein Wunsch, zu den Wurzeln deines Volkes zurückzukehren. Du bist Ingenieur und willst mithelfen, Mexiko zu modernisieren. Was solltest du hier anfangen?«
»Zunächst einmal am Leben bleiben«, erwiderte er trocken. »Wenn es dir gelingt, Hans Bohremann zu überzeugen, dass ich nicht Patricks Mörder bin, könnte ich mein altes Leben weiterführen. Andernfalls …«
Er zuckte nur mit den Schultern. Alice ergriff spontan seine Hand und drückte sie.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach sie. »Aber wenn es mir nicht gelingt, dann … dann …«
Sie wusste nicht, was geschehen würde, hoffte aber mit einer ihr bisher unbekannten Intensität, er möge sie bitten, zu ihm zurückzukommen. Ob sie in der Lage wäre, den Rest ihres Lebens in einem versteckten Dorf im Dschungel unter den einfachsten Bedingungen zu verbringen, vermochte sie in diesem Augenblick nicht zu entscheiden. Doch wenn er sie nur dazu aufforderte, dann wüsste sie endlich, woran sie bei ihm war.
Andrés schwieg. Er schien bedrückt und nicht willens zu weiteren Gesprächen.
»Ich gehe mal nach draußen und versuche herauszufinden, von welcher Zeremonie Ix Chel vorhin gesprochen hat«, sagte er. Alice schluckte Worte des Widerspruchs tapfer hinunter. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es für sie beide vermutlich keine gemeinsame Zukunft gab. Nun staunte sie, wie sehr sie dieses Wissen plötzlich schmerzte. Sobald er verschwunden war, legte sie sich auf die Petate und rollte sich zusammen. Sie weinte so laut und hemmungslos wie damals in Veracruz, als sie von Patricks Tod erfahren hatte.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages ertönte ein Horn, und die ganze Dorfgemeinschaft versammelte sich vor einer der Hütten, die keine Wände hatten und nur ein schlichtes Dach aus Palmenblättern. Auf dem Boden waren zahlreiche Schalen aus ausgehöhlten Kokosnüssen und auch aus Ton aufgestellt worden. Alice ahnte, dass die Lebensbedingungen dieser Indianer nicht ganz so primitiv waren, wie sie zunächst
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