Der Duft des Regenwalds
aber ihr Vater jagte sie wieder davon. Sie hatte ihn vor der Dorfgemeinschaft blamiert, indem sie ihm den Gehorsam verweigerte und mit einem Caxlán davonlief. Ihre Mutter half ihr schließlich, hierher zu den Hach Winik zu gelangen, wo sie aufgenommen wurde.«
Alice stützte sich mit beiden Händen auf dem Boden ab. Auf einmal fühlte sie sich unendlich erschöpft. Sie wusste, dass Dr. Scarsdale Patrick niedergeschlagen, vielleicht sogar getötet und dann fortgebracht hatte, doch sie konnte nicht begreifen, warum das geschehen war. Sie war an der Seite von Patricks Mörder durch halb Mexiko gereist, hatte Geld von ihm geliehen bekommen und sich auf ihn verlassen.
»Ix Chel möchte sich jetzt verabschieden.« Andrés riss sie aus ihren Gedanken. »Dieses Gespräch war auch für sie sehr anstrengend, denn sie hatte bisher geschwiegen. Sie sagt, dass sie sehr froh ist, dir begegnet zu sein.«
Alice versuchte zu lächeln, doch es fiel ihr schwer. Vermutlich hätte Patrick gewollt, dass sie seine Auserwählte in die Arme schloss, aber dieses kindliche und doch gleichzeitig sehr kluge Indianermädchen schien ihr zu fremd, um ihm derart nahekommen zu können.
»Bitte sage ihr, wie dankbar ich ihr bin, dass sie bereit war, mit mir zu reden«, ließ sie Andrés übersetzen. Ix Chel schenkte ihr noch mal ein offenherziges Lächeln, das aber nicht über die tiefe Trauer in ihrem Blick hinwegtäuschen konnte. Dann stand sie auf.
»Morgen …«, sagte sie auf Deutsch, »Zeremonie für Patrick. Dann seine Seele frei.«
Bevor Alice weiter nachfragen konnte, war sie verschwunden. Schweigen trat ein. Sie nahm Andrés als Schatten an ihrer Seite wahr, den sie immer noch nicht ansehen wollte. Tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass ihr Zorn übertrieben war, aber in all ihrer Verwirrung schien ihr dieses Gefühl wie ein sicherer Ast in einem Strudel, an den sie sich klammern konnte.
»Dr. Scarsdale«, sagte er leise, »niemals wäre ich auf diese Idee gekommen. Wir aßen regelmäßig mit ihm. Er weiß, dass du nach Ix Chel suchst. Wahrscheinlich kann er sich denken, warum wir nicht nach Palenque zurückgekehrt sind.«
Nun richtete Alice ihren Blick auf sein Gesicht. Es gab sonst niemanden hier, mit dem sie reden konnte.
»Hast du eine Ahnung, warum … warum er Patrick getötet hat? Und das … ich meine, was mit Patricks Herz geschah? Wer hat das getan und aus welchem Grund?«
Andrés zuckte ratlos mit den Schultern.
»Es gab öfter Streit zwischen Dr. Scarsdale und deinem Bruder. Bei dieser letzten Begegnung in der Sierra Madre ist er vermutlich eskaliert. Ich glaube, es gefiel dem Archäologen nicht, dass Patrick Hans Bohremann verärgert hatte, der die Forschungsarbeit in Palenque unterstützte. Eine andere Erklärung habe ich nicht. Vielleicht hielt er Patrick zunächst nur für verletzt und nahm ihn mit, um einen Arzt zu suchen. Als er merkte, dass er tot war, ließ er ihn irgendwo liegen. Was danach geschah, werden wir vielleicht nie erfahren.«
»All das bedeutet, dass wir jetzt keinesfalls nach Palenque zurückgehen können«, stellte Alice fest. »Ich wäre nicht in der Lage, Dr. Scarsdale etwas vorzuspielen, und ich bin mir nicht mehr sicher, wozu er fähig ist. Es wäre nicht so schwer, uns umzubringen und einfach im Dschungel zu verscharren. Wir müssen …«
Voll neuer Energie richtete sie sich auf.
»Wir müssen zu Hans Bohremann und ihm mitteilen, was wir von Ix Chel erfahren haben. Er hat genug Macht und Einfluss, um uns vor Dr. Scarsdale zu schützen und ihn zur Strecke zu bringen«, rief sie entschlossen und staunte über Andrés’ düstere Miene.
»Du kannst es versuchen, aber für mich wäre es zu riskant«, sagte er nur.
»Aber wenn wir ihm doch erzählen, dass…«
»Wir haben nichts weiter als die Aussage eines gewöhnlichen Indio-Mädchens, um einen amerikanischen Gelehrten zu belasten. Und Ix Chel wird uns niemals freiwillig zu einem Kaffeebaron begleiten, was ich verstehen kann. Ich fürchte, wenn du mit dieser Geschichte bei Hans Bohremann auftauchst, wird er glauben, dass du unter Fieberwahn gelitten hast oder einer geschickten Betrügerin auf den Leim gegangen bist.«
Alice sackte wieder zusammen. Er hatte recht, ohne überzeugende Beweise vermochten sie nicht viel auszurichten. Andrés würde zweifelsohne verhaftet werden, sobald Hans Bohremann seiner habhaft wurde.
»Aber was machen wir jetzt?«, fragte sie ratlos. »Wir können weder nach Palenque zurück noch sonst irgendwohin, wo
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