Der Duft des Regenwalds
bereit, es gierig zu verschlingen. Ein Räuspern drang an ihre Ohren, während sie kaute.
»Mademoiselle Wegener, gestern Abend, da … da habe ich mich wohl ein wenig ungehörig benommen«, sagte Juan Ramirez. Seine Stimme floss glatt dahin, doch sie war etwas leiser als bisher. Alice hob den Kopf. Es erleichterte sie, einen Hauch von Verlegenheit in seinen Augen wahrzunehmen. Ihm schien die ganze Angelegenheit ebenso unangenehm zu sein wie ihr.
»Vergessen wir es einfach«, schlug sie vor. »Es lag an diesem Tequila, von dem ich jetzt erst einmal die Finger lassen werde.«
Er atmete tief durch und ließ seine Zähne aufblitzen.
»Nun gut, dann zeige ich Ihnen heute Veracruz, meine Heimatstadt.«
Eine Woche später wusste Alice, dass Veracruz die erste von Europäern gegründete Niederlassung in Mexiko war. Hernan Cortez war im Jahre 1519 an einem Freitag dort gelandet und hatte den Ort daher Villa Rica de la Verdadera Cruz, die reiche Stadt des wahrhaftigen Kreuzes, genannt. Bereits im 16. Jahrhundert hatte man afrikanische Sklaven in die wohlhabende Kolonie gebracht, da die Ureinwohner den harten Arbeitsbedingungen oft nicht gewachsen waren. So kam es zu jener Vermischung, aus der dunkelhäutige Menschen mit lautem, ruhelosem Wesen hervorgegangen waren, denn sobald irgendwo mehrere Mexikaner aufeinandertrafen, waren Momente der Stille so selten, dass Alice sich manchmal nach ihnen sehnte. Gleichzeitig bewunderte sie die biegsame Lässigkeit, mit der die Frauen sich bewegten, als habe ihnen niemals jemand beigebracht, dass es höchst unschicklich war, durch aufreizende Hüftschwünge männliche Blicke zu fesseln. In den zahllosen Kirchen knieten Leute vor goldverzierten Heiligenbildern und Kruzifixen, um zu beten oder auch lautstark zu klagen. Sie hatte bereits die meisten der berühmten Gebäude, die allesamt völlig europäisch wirkten, besichtigt, als Juan Ramirez einen Ausflug zu einer Insel namens San Juan de Ulúa vorschlug, wo eine alte, ursprünglich zur Abwehr von Piraten errichtete Festung stand, die nun als Gefängnis diente. Sie umrundeten das wuchtige Bauwerk mit einem Ruderboot, das Juan Ramirez am Hafen aufgetrieben hatte und in dem sie sich an den Eisenpanzern der riesigen Dampfschiffe vorbeischlängelten. Die Ozeanungeheuer und Handelsschiffe wurden nach einer Weile seltener, sodass ein ungetrübter Blick auf die Fassade der Stadt mit ihren Türmen und farbenfrohen Häusern möglich war. Am Ufer zogen Eselkarren ebenso vorbei wie prächtige Kutschen und manchmal gar Automobile. Immer wieder drang Musik an ihr Ohr. Sie schloss die Augen, da die Sonne sie blendete, und zog sich den neu erworbenen Strohhut in die Stirn. Je weiter sie sich vom Hafen entfernten, desto angenehmer wurde die Luft, Gerüche des Ozeans mischten sich mit dem Duft von Gewürzen, der vom Ufer zu ihnen wehte. Alice lauschte dem Geräusch der Ruder beim Eintauchen ins Wasser.
»Wenn Sie wollen, können wir in einem Dorf am Stadtrand eine Pause machen und etwas essen«, schlug Juan Ramirez vor. Sie nickte wie gewohnt. Bisher hatte ihr Aufenthalt in Mexiko sich sehr angenehm gestaltet, ganze Tage waren vergangen, ohne dass sie mit ungeduldiger Sorge Patricks Ankunft herbeigesehnt hatte. Das Boot glitt langsam zum Ufer und wurde an einem Strauch festgebunden. Juan Ramirez half ihr aus dem Boot, wie es sich für einen Kavalier gehörte, doch er hielt ihre Hand noch einen Moment lang fest, als sie bereits auf festem Boden stand. Alice störte sich nicht daran. Je länger sie diesen Mann kannte, desto vielschichtiger und angenehmer erschien ihr sein Wesen. Der eitle Schönling hatte durchaus reizvolle Facetten bekommen.
Sie liefen gemeinsam eine sandige Straße ins Landesinnere entlang, bis schließlich ein paar Hütten und eine kleine weiße Kirche vor ihnen auftauchten. Juan Ramirez schritt voran, um den herbeieilenden Bewohnern des Dorfes Anweisungen zu erteilen. Ein wackeliger Tisch wurde aufgestellt, und Frauen in bunten Röcken brachten schon bald die üblichen Tortillas. Es war Alice unangenehm, dass ihretwegen ein derartiger Aufwand betrieben wurde, doch die Leute lächelten freundlich, als sie ihr und ihrem Begleiter Schemel anboten. Alice aß und trank wider bessere Vorsätze ein Glas Tequila. Die Dorfleute wahrten respektvollen Abstand, obwohl sie bei jeder Bewegung neugierige Blicke auf ihrer Haut spürte.
»Wollen wir unsere Gastgeber nicht auffordern, mit uns zu essen?«, fragte sie Juan Ramirez, der sie
Weitere Kostenlose Bücher