Der Duft des Regenwalds
unsympathisch zu werden. Aber sie wusste, dass sie ihn hier brauchte.
»Nein, ich wurde nicht bestohlen«, erwiderte sie. »Aber ich … ich suche jemanden, und es ist wichtig, eine persönliche Angelegenheit.«
Sie sah Roderigos Augen spöttisch blitzen und warf ihm einen strengen Blick zu, der ihn tatsächlich daran hinderte, weiter nachzubohren.
»Vielleicht finde ich auch einen Verwandten des Mädchens, den ich kenne. Sind denn alle Bewohner des Dorfes jetzt hier?«, drängte sie Roderigo, sie weiter zu unterstützen. Er zuckte mit den Schultern.
»Viele Männer sind vermutlich auf den Plantagen, um Geld zu verdienen, oder auf ihren eigenen milpas. In der Kirche dürften auch ein paar Leute beten. Chamulas sind schrecklich abergläubisch. Heute ist übrigens ihr Totenfest. Sie werden den Verstorbenen Gaben bringen, die sie dann über Nacht verzehren können.«
Er grinste abfällig. Alice fiel ein, dass ihr bereits in San Cristóbal festliche Blumengirlanden auf den Straßen aufgefallen waren, doch sie hatte in diesem Moment andere Sorgen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Auf einer Plantage war Andrés keinesfalls. Möglicherweise half er seinen Verwandten bei der Feldarbeit. Oder die Kirche? Er war ebenso wenig religiös wie sie selbst und hielt vielleicht nicht viel von diesem Totenfest, doch sie wusste, dass die Umstände einen zwingen konnten, trotzdem ein Gotteshaus aufzusuchen.
»Könnten wir in der Kirche nachsehen?«, fragte sie.
»Man wird davon nicht begeistert sein, aber die Leute trauen sich sicher nicht, eine Ladina hinauszuwerfen. Ich habe schon gesagt, dass Sie Hans Bohremann gut kennen.«
Roderigo reichte ihr selbstzufrieden die Hand, um ihr vom Maultier zu helfen. Sie zögerte einen Moment, denn sie war durchaus in der Lage, allein abzusteigen. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie ihn brauchte. Vielleicht hatte Andrés sie dies gelehrt – ihre eigene Unvollkommenheit und Hilfsbedürftigkeit anzunehmen.
Roderigo führte sie in die Kirche, und sie war ihm dankbar dafür, denn in Begleitung eines Indios, ganz gleich, wie er sich verkleidet hatte, kam sie sich nicht so sehr als Eindringling vor. Die Tür schwang auf, und sie stand in einer fremden Welt.
Es war dämmerig, denn der helle Tag durfte nicht über die Türschwelle. Auf dem Boden waren Zweige und Tannennadeln verstreut. Hunderte von Kerzen glommen im Dämmerlicht, und das monotone Murmeln zahlloser Stimmen füllte den mittelgroßen, schlichten Raum. Alice konnte keinen Priester erkennen, doch sehr viele Gläubige, die vor bunt geschmückten Heiligenfiguren auf dem blanken Boden knieten und in ihre Gebete versunken waren.
Obwohl dies eine christliche Kirche sein musste, war sie anders als alles, was Alice bisher in Europa, aber auch in mexikanischen Städten gesehen hatte. Das Erbe der alten indianischen Rituale, die sie im Regenwald hatte miterleben dürfen, saugte man hier mit jedem Atemzug ein. Zwei Welten mussten ineinander verschmelzen, um die Magie eines solchen Ortes entstehen zu lassen. Gebannt beobachtete sie, wie Leute weitere Kerzen anzündeten, die Figuren mit Ketten aus Blumen und bunten Steinen behängten und immer wieder ihre Gebetssprüche murmelten, wobei sie vor- und zurückschaukelten wie in Trance.
Alice wagte es nicht, einen Schritt weiter in den Raum zu treten, denn sie wusste, dass sie nicht hierhergehörte. Auch Roderigo verharrte an ihrer Seite, als sei er trotz aller abfälligen Kommentare über Chamulas dennoch nicht bereit, sie in ihren Ritualen zu stören. Als Alice’ Augen sich allmählich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte sie Andrés. Er kniete neben einem kleinen, weißhaarigen Mann vor einer Figur, die einen leuchtend roten Mantel trug. Der Schein all jener Kerzen, die bereits zu Ehren dieses Heiligen angezündet worden waren, erhellte auch sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen, war völlig in sich gekehrt, auch wenn er keinen so entrückten Eindruck machte wie sein Begleiter und die anderen Leute hier. Alice fragte sich, ob auch hier Rauschmittel im Spiel waren, um der göttlichen Macht näherzukommen. Andrés hatte sicher nichts genommen, dachte sie mit einem Lächeln. Was ihm wohl durch den Kopf ging, während er hier kniete? Er schien so in seine Gedanken versunken, dass sie keine Möglichkeit sah, ihn auf sich aufmerksam zu machen, ohne laut zu rufen, was einer Entweihung dieses Ortes gleichgekommen wäre. Sie würde draußen warten müssen, bis auch er wieder
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