Der Duft des Regenwalds
herauskam. Gerade wollte sie sich Roderigo zuwenden, um ihm diesen Entschluss mitzuteilen, da hörte sie plötzlich laut und deutlich Andrés’ Stimme: »Alice!«
Er klang völlig fassungslos und starrte in ihre Richtung, als glaubte er, an diesem magischen Ort sei ihm ein Geist erschienen. Alice fühlte sich von neugierigen, zornigen und schlichtweg fassungslosen Blicken durchbohrt. Ihre Wangen begannen zu glühen, und sie war dankbar für die spärliche Beleuchtung am Eingang der Kirche.
Andrés stand auf und eilte mit langen Schritten auf sie zu. Alice atmete erleichtert auf und wandte sich an Roderigo:
»Ich habe jetzt den Mann gefunden, den ich suchte. Wir gehen besser hinaus, denn hier drinnen kann ich mich schlecht mit ihm unterhalten.«
Wieder funkelte die Neugier in Roderigos Augen, aber er folgte ihrer Anweisung. Erneut wurde sie angestarrt, obwohl es hier nicht so auffiel wie in der Kirche, wo sie für einen Augenblick zu einer bedenklichen Konkurrenz für alle Heiligenfiguren geworden war. Alle warfen möglichst unauffällige Blicke in Alice’ Richtung. Sie atmete tief durch und wartete, bis auch Andrés durch das Kirchenportal getreten war.
»Wie in Gottes Namen kommst du hierher?«, begrüßte er sie fassungslos auf Englisch. Roderigo schien so verblüfft über die Anrede in einer unverständlichen Sprache, dass ihm das süffisante Grinsen verging.
»Das könnte ich ebenso gut dich fragen«, erwiderte sie. »Du bist ohne jede Erklärung einfach verschwunden.«
Andrés schlug die Augen nieder.
»Wir müssen uns in Ruhe unterhalten. Nicht hier, vor allen Leuten«, sagte er nur. Alice stimmte nickend zu.
»Warte eine Weile, ich komme gleich wieder«, wies sie Roderigo an, der das Gesicht verzog, aber ohne Widerspruch gehorchte. Andrés führte sie an den Hütten vorbei zu einer Eiche, um die ein paar leere Kisten verteilt waren. Er ergriff die größte davon und trug sie hinter den Stamm.
»So, hier können wir reden, ohne dass das ganze Dorf zusieht.«
Alice setzte sich gehorsam neben ihn. Sie merkte, dass er Abstand von ihr wahrte, und verspürte einen Stich in der Brust. Seine Augen funkelten fast zornig.
»Wer ist dieser herausgeputzte Kerl, mit dem du hier aufgetaucht bist?«
»Er heißt Roderigo und war bereit, mich hierherzubringen. Mehr weiß ich auch nicht von ihm.«
Das Funkeln in Andrés’ Augen wurde zu einem Blitzen.
»Heißt das, du bist mit einem wildfremden Mann allein losgezogen? Er hätte in den Bergen alles Mögliche mit dir anstellen können!«
»Das hat er aber nicht«, sagte Alice belustigt zurück. »Er brachte mich einfach hierher, wie vereinbart.«
»Trotzdem war es sehr leichtsinnig von dir, dich auf so ein gefährliches Abenteuer einzulassen«, tadelte Andrés. Alice wurde wütend. Er hatte sich ihr gegenüber bisher niemals so schulmeisterlich benommen.
»Du hast doch selbst gesagt, dass ich den Leuten mehr vertrauen sollte«, entgegnete sie schnippisch. »Außerdem bin ich nur deinetwegen hier.«
Kaum waren diese Worte ausgesprochen, biss sie sich auf die Lippen. Alice Wegener hatte soeben gestanden, einem Mann nachgelaufen zu sein.
Doch sie hatte mit diesem Geständnis Erfolg, denn Andrés wandte sich ihr nach kurzem Zögern zu.
»Du wolltest mir vermutlich alles erklären«, sagte er knapp. »Aber das ist nicht nötig. Ich verstehe dein Verhalten.«
Alice schüttelte ratlos den Kopf.
»Was verstehst du denn?«
Er seufzte.
»Eine Frau wie du braucht einen Mann, der ihr ein Leben in Wohlstand und Ansehen bieten kann. Juan Ramirez ist in vielerlei Hinsicht der Richtige.«
Sie lachte ungläubig auf.
»Warum lässt du nicht mich selbst darüber entscheiden?«
»Mir schien, du hattest deine Entscheidung schon getroffen«, sagte er kalt. Nun war es an Alice, laut zu seufzen.
»Ich hatte eine kurze Affäre mit Juan Ramirez«, gestand sie schließlich. »Es ging nach meiner Ankunft in Veracruz los, und dann, in San Cristóbal, waren wir eine Nacht lang ein Liebespaar. Danach war es auch schon wieder vorbei. Für mich hörte es endgültig auf, als ich dich näher kennenlernte.«
Er musterte sie so kühl und misstrauisch, dass es wehtat.
»Vergisst du alle deine Liebhaber so schnell, wenn sich die Aussicht auf Abwechslung bietet?«
Alice fuhr auf, denn diese Worte hatten in die von Tante Grete geschlagene Wunde getroffen.
»Ich habe nie behauptet, dass ich wie eine Heilige gelebt hätte, bevor wir uns trafen. Das hast du selbst auch nicht, denke ich.
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