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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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Doch über Frauen urteilt man natürlich anders.«
    Es erstaunte sie, wie ruhig sie gesprochen hatte. Ganz richtig war ihre Aussage nicht, denn sie hatte von Anfang an geahnt, dass Andrés’ Vorleben unschuldiger gewesen war als das ihre. Doch wenn er sie dafür verurteilte, so gab es für sie beide keine Zukunft, denn sie war nicht zu Reue bereit.
    »Warum sollte ich über dich anders urteilen, nur weil du eine Frau bist?«, fragte er, doch ein böser, beißender Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit. »Ein jeder Europäer hat das Recht, sich in unserem Land nach Gutdünken zu amüsieren.«
    Als Alice mit dem Fuß aufstampfte, sah er sie schweigend an, als warte er in Wahrheit auf eine Erklärung für ihr Verhalten. Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren.
    »Ja, vielleicht wollte ich mich am Anfang einfach nur amüsieren«, gestand sie. »Aber sehr bald wurde es für mich ernst. Mein Bruder starb, ich war in einem fremden Land und wusste nicht, wem ich trauen konnte. Bisher hatte ich mir im Leben immer irgendwie selbst helfen können, aber nun ging das auf einmal nicht mehr. Und während ich hier ziemlich ungeschickt durch eine unbekannte Welt irrte, traf ich zufällig einen Mann, der mir völlig anders schien als alle, die ich vor ihm kannte, mein Bruder ausgenommen. Ich konnte mit ihm über persönliche Dinge reden und fühlte mich verstanden. Er machte mich nicht schon nach den ersten zehn Minuten wütend. Jedenfalls nicht vor diesem Gespräch.«
    Andrés sah sie eine Weile schweigend an und lehnte sich gegen den Baumstamm.
    »Nun gut, dann mache ich dich jetzt wütend. Vielleicht ist es besser so. Das erleichtert dir den Abschied.«
    Sie unterdrückte einen Wutschrei und sprang auf. Sie hatte sich mehr um ihn bemüht als um irgendeinen anderen Menschen zuvor in ihrem Leben. Jetzt war es genug.
    »Wunderbar, dann nehmen wir jetzt Abschied«, zischte sie. »Ich bedauere die Zeit, die ich mit dir verschwendet habe. Fahr einfach zur Hölle!«
    Drei Schritte war sie gelaufen, da wurde sie zurückgerissen. Andrés’ Arme umschlangen sie wie eiserne Ketten, aus denen es kein Entkommen gab. Sie wandte trotzig ihren Kopf ab, als er sie küssen wollte, doch der flehende Blick seiner Augen ließ sie nachgeben.
    »Ich dachte, du würdest mich so schnell ablegen wie deine verschmutzte Indio-Kleidung«, flüsterte seine Stimme an ihrem Ohr. »Sobald du mich nicht mehr brauchst. Als ich dich mit Juan Ramirez sah, wusste ich nicht, ob ich lieber euch oder mich selbst erschießen wollte. Ich musste weg, sonst wäre ein Unglück geschehen.«
    »Unsinn«, flüsterte Alice und streichelte sein glattes Gesicht, »du hättest nur mit mir reden sollen, anstatt einfach fortzulaufen.«
    Er antwortete nicht, doch sie sah die Tränen in seinen Augen. Fast erschrak sie, denn ihr war nicht klar gewesen, welche Gefühle sie in diesem zurückhaltenden, stillen, klugen Mann geweckt hatte. Aber wie sollte es mit ihnen weitergehen?
    Es freute sie, dass seine Hand immer noch die ihre umklammerte, während sie ins Dorf zurückkehrten. Er sprach ein paar Worte auf Tzotzil. Als Roderigo weiterhin staunend in ihre Richtung starrte, sagte Andrés laut und deutlich: »Mi mujer.«
    Das unruhige Raunen und die nun unverhohlen neugierigen, fassungslosen, teils sogar feindseligen Blicke – all dies machte Alice klar, dass er soeben höchst unvorsichtig gewesen war. Doch gleichzeitig war es an der Zeit gewesen, dass er diese Worte endlich öffentlich sagte. Ihr war leichter zumute, nun, da sie beide einen Entschluss gefasst hatten, ohne genau zu wissen, wie er umgesetzt werden konnte. Das Verhalten der Dorfbewohner war nur ein Vorgeschmack auf das, was ihnen bevorstand, sobald sie sich offen zueinander bekannten.
    Der ältere Mann, neben dem Andrés in der Kirche gesessen hatte, kam mit langen Schritten auf sie zugeeilt und begann auf Tzotzil zu reden. Er klang weniger erstaunt als verärgert.
    »Mein Onkel sagt, wir sollen jetzt in einer Hütte verschwinden, bis das ganze Dorf sich an die unerhörte Neuigkeit gewöhnt hat«, übersetzte Andrés. Alice folgte den beiden ohne Widerspruch.
    »Sie hassen jegliche Veränderung«, erklärte Andrés, als sie gemeinsam neben dem Comal saßen, wo eine ältere Frau schweigend ihre Tortillas briet. »Wer eine Tradition bricht, ist eine Bedrohung für die Gemeinschaft. Ein Kind, das in einem Dorf wie diesem zur Welt kommt, hat ein vorbestimmtes Leben, noch bevor es den ersten Schrei getan hat.«
    Seine Stimme klang

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