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Der Duft des Regenwalds

Der Duft des Regenwalds

Titel: Der Duft des Regenwalds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosa Zapato
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bitter. Alice fuhr ihm mit der Hand über den Rücken.
    »Das Leben der meisten Menschen ist von ihrer Familie vorbestimmt.« Sie versuchte, ihn mit seiner Herkunft zu versöhnen. »Meines war es auch.«
    »Aber du bist ausgebrochen. Das faszinierte mich, als Patrick von dir erzählte. Ich hatte noch keine Frau getroffen, die so mutig war. Ich war schrecklich neugierig, dich kennenzulernen. Vor allem deshalb und nicht, weil er dich als wunderschön beschrieb, obwohl das stimmt.«
    Alice schmiegte ihren Kopf an seine Schulter, denn seine Worte hatten sie glücklicher gemacht, als er ahnen konnte. Dass es einem Mann irgendwann gelingen würde, hinter ihre Fassade zu blicken und Gefallen an dem zu finden, was er dort entdeckte, hatte sie niemals in Erwägung gezogen. Ihr Verhältnis zu Harry war ein bewusster Bruch mit Tabus gewesen, ein gemeinsames Spiel, das keine echte Nähe zuließ. Bei Juan Ramirez war sie zunächst offener gewesen, doch er hatte sie im Stich gelassen, als sie ihn am nötigsten gebraucht hatte. Seine Reue war ehrlich gewesen, aber zu spät gekommen. Ein Mann aus einem anderen Volk, der für sie am wenigsten infrage kam, war nun derjenige, den sie wollte. Sie rückte noch näher an ihn heran und ließ ihre Finger über seine hohen Wangenknochen und die geschwungene Nase gleiten. Sie hatte niemals geahnt, wie viel Glück die bloße Gegenwart eines anderen Menschen auslösen konnte.
    Ihr fiel auf, dass die alte Indianerin von ihrer Tortilla aufblickte, um sie beide neugierig zu mustern. Ihr Gesicht war frei von Vorwurf und Feindseligkeit, und ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen.
    Andrés täuscht sich, dachte Alice. Nicht alle Leute in Chamula hassten den Bruch mit Traditionen. Die alte Frau schien sich ertappt zu fühlen, denn sie wandte sich rasch wieder ihrer Tortilla zu. Die Fladen durften auf jeder Seite nur kurz angebraten werden, wie Alice von der alten Ix Chel gelernt hatte.
    »Dieses Totenfest heute Abend, an dem solltest du teilnehmen«, sagte Alice. »Nimm ein bisschen Rücksicht auf die Gefühle dieser Leute.«
    Ihr wurde bewusst, dass sie ihm zu einem Verhalten riet, das sie gegenüber ihrer eigenen Familie verweigert hatte.
    »Jetzt redest du wie Patrick«, erwiderte er. »Dabei bist du ihm nicht besonders ähnlich.«
    Alice zuckte zusammen.
    »Schon gut, ich weiß, ich bin egoistisch und kalt und keine richtige Frau, weil es mir an Herz mangelt. Aber gerade eben klang es so, als würdest du mich trotzdem mögen.«
    »Das tue ich auch.«
    Er lachte auf und drückte ihre Hand.
    »Du bist einfach wie dein Vater, das ist alles. Patrick war der Weiche und Sanftmütige in eurer Familie. Und deshalb hackte dein alter Herr ständig auf ihm herum.«
    »Das tat er bei mir auch«, erwiderte sie.
    »Ja, aber du konntest dich besser wehren. Das beeindruckte ihn, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Und der arme Patrick wurde dadurch noch mehr zum Schwächling.«
    »Mein Bruder war kein Schwächling!«, rief Alice empört.
    »Nein. Ich bin froh, dass du es begreifst, denn dein Vater vermochte es nicht. Du bist so geworden, wie sein Sohn hätte sein sollen: ehrgeizig, entschlossen und eisenhart, wenn es sein muss. Dein Bruder hätte niemals eine Tochter derart in die Enge getrieben, dass sie keine andere Möglichkeit mehr sah, als vor ihm davonzulaufen. Aber er hätte seinen Vater auch nicht sterben lassen, ohne von ihm Abschied zu nehmen.«
    Alice begann zu frieren und flüchtete sich in Zorn, um dem schlechten Gewissen zu entkommen.
    »Er hatte mir, gleich nachdem ich fortgegangen war, ausrichten lassen, dass er mich nie mehr sehen will«, verteidigte sie ihr Verhalten.
    »Du hättest es wenigstens versuchen können. Das Sterben kann Menschen weicher machen, als sie jemals zuvor gewesen sind. Aber du warst zu stolz.«
    Sie senkte den Kopf.
    »Ja, es stimmt. Das war ich. Kannst du mich denn gar nicht verstehen?«
    »Natürlich verstehe ich dich«, erwiderte er nachsichtig lächelnd. »Ich selbst wäre vielleicht nicht anders gewesen. In dieser Hinsicht war dein Bruder stärker als wir beide zusammen, denn er konnte vergeben.«
    Andrés wischte Staub von seiner Hose und sagte ein paar Worte zu der alten Indio-Frau, die ihm ein zahnloses Lächeln schenkte.
    »Ich will heute Abend deinem Rat folgen und mit zum Friedhof gehen, um den Toten Gaben zu bringen, obwohl ich mit ihnen nur sehr entfernt verwandt bin«, sagte er zu Alice. »Nachdem ich dir gerade eine Moralpredigt gehalten habe, sollte

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