Der Duft des Regenwalds
von Ihnen«, erwiderte sie daher betont höflich. »Wir können gleich losgehen, wenn Sie wollen.«
Es war nur ein kurzer Fußweg zum Zócalo, dann bogen sie in eine der kleinen Seitenstraßen ein, die von hübschen, farbenfrohen Häusern und hohen Bürgersteigen gesäumt wurden. Der Schneider hatte dort seinen Laden. Er war französischer Abkunft, begrüßte die Señora Bohremann überschwänglich mit betont starkem Akzent und holte gleich mehrere Kleider aus seiner Truhe. Sie entsprachen Rosarios Geschmack, denn sie waren von klassisch elegantem, schlichtem Schnitt und in dezenten Farben gehalten. Alice vermisste die Buntheit, an die sie sich in Mexiko gewöhnt hatte, doch sie hatte keine Wahl. Rosario zeigte sich außerordentlich großzügig, indem sie ihr ein paar unbenutzte Kleider schenken wollte. Sie suchte sich ein schwarzes mit Volants an den Ärmeln aus, zudem einen grauen Leinenrock und zwei Blusen mit Rüschenkragen. Gemeinsam mit ihrem noch verbliebenen Vorrat würde dies für die Heimreise genügen. Der Franzose verabschiedete sich mit Verbeugung und Handkuss von beiden Damen, nachdem Rosario bezahlt hatte. Alice war unwohl. Sie wollte endlich wieder über eigenes Geld verfügen, doch sie musste warten, bis sie in Deutschland wäre.
»Wenn Sie wollen, können wir uns noch ein wenig in der Stadt umsehen«, schlug Rosario vor. Alice nahm auch diesen Vorschlag an, obwohl San Cristóbal recht überschaubar war und sie es bereits bei einigen Spaziergängen erkundet hatte. Sie schlenderten an einer hübschen Kirche mit weißer und himmelblauer Fassade vorbei, wo Rosario sich auf einer Bank in der Sonne niederließ. Es schien ein unpassender Platz für die schöne, stolze Mexikanerin. Im Hintergrund lagen ein paar betrunkene Gestalten. Zwei Indianerinnen versuchten, Tongefäße, Maiskolben und Kürbisse an Vorbeigehende zu verkaufen, während zahllose Kinder an ihren Rockschößen hingen. Ein mahnender Blick von Rosario genügte, damit sie sich rasch zurückzogen. Alice setzte sich ebenfalls auf die Bank und beobachtete, wie Rosario ihren Hut zurechtrückte und ihre hauchdünnen rosa Spitzenhandschuhe glatt strich. Neben der tadellos gekleideten Señora musste sie reichlich verknittert und zerrupft wirken. Es war erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Rosario anderen Frauen das Gefühl vermitteln konnte, ihr nicht ebenbürtig zu sein.
»Ich bedauere, was Ihrem Bruder hier widerfahren ist«, sagte Alice. »Und natürlich auch die unangenehmen Umstände, denen Sie hier ausgesetzt waren.«
Alice dachte, dass ein Fußmarsch durch den Dschungel und ein Sturz von einer Maya-Pyramide mit dem Begriff »unangenehme Umstände« nicht ganz treffend beschrieben wurden, sagte dies aber nicht.
»Aber Sie haben sicher begriffen, dass der Tod Ihres Bruders, so bedauernswert er ist, nichts mit unserem Land zu tun hat. Auch mein Gemahl hätte ihn nicht verhindern können«, fuhr Rosario fort, wobei ihr Blick auf das Portal der Kirche gerichtet war. Die in zartrosa Spitze gehüllten Hände waren zu Fäusten verkrampft. Irgendwie wirkte diese Frau immer angespannt.
»Ich mache weder Mexiko noch Ihrem Mann irgendeinen Vorwurf«, versicherte Alice. Rosario wandte ihr endlich den Kopf zu und lächelte kurz.
»Das freut mich. Hans ist es sehr wichtig, dass man in Deutschland nicht schlecht über uns hier denkt.«
Darum also zählte plötzlich sogar die Meinung einer verrückten Künstlerin! Was Hans Bohremann sich wünschte, hatte auch für Rosario allerhöchste Bedeutung. Alice musterte die Señora staunend. Sie wusste, dass sie selbst niemals eine derart mustergültige Gattin sein könnte, denn dazu war sie zu selbstständig und starrköpfig.
»Mein Bruder ist von Ihnen sehr angetan, Fräulein Wegener.«
Ihr Blick ruhte abwartend auf Alice, die verunsichert auf der Bank herumrutschte. Sollte sie noch mal erpresst werden?
»Ich weiß«, gestand sie schließlich, »aber es haben sich Dinge ereignet, die … die es mir unmöglich machen, mich so zu verhalten, wie Ihr Bruder es sich wünscht.«
Rosarios Augenlider senkten sich.
»Sind Sie sich völlig sicher, dass Sie die richtige Entscheidung treffen?«, fragte sie nur. Alice nickte. Rosario stieß einen leisen Seufzer aus.
»Nun denn.« Sie machte eine Pause und strich ihre Handschuhe glatt, obwohl sie keinerlei Falten aufwiesen. »Mein Bruder«, fuhr sie mit gesenktem Kopf fort, »war Ihnen gegenüber sehr vertrauensselig. Das ist mitunter seine Art.«
Alice
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