Der Duft des Regenwalds
Harry spöttisch. Ebendas erwartet sie doch von Gott oder von seinen Dienern auf Erden, aber darauf wird sie lange warten können, meinte Alice ihn flüstern zu hören. Sie staunte, wie sehr die zynische Weltsicht ihres Liebhabers sie beeinflusst hatte. Sie wollte sich neben die ausgemergelte Alte knien und ihr zuflüstern, dass Gott meist nur denen half, die sich selbst zu helfen wussten, doch sie brachte es nicht fertig, die Frömmigkeit einer alten Frau derart zu verhöhnen. Stattdessen griff sie rasch in ihr Ridikül, um einen Peso herauszukramen. Im Vorbeigehen ließ sie die Münze so unauffällig wie möglich neben die Betende fallen, die kurz aufblickte und ein paar Worte murmelte, doch Alice hatte sich bereits zu weit entfernt, um sie verstehen zu können. Die alte Frau ergriff sichtlich ratlos das Geldstück und drehte sich nach Alice um, die ihrem Blick verlegen auswich. Nach einigem Zögern wischte die Alte die Münze mit dem letzten schmutzfreien Zipfel ihres Rockes sauber, um sie zu Alice’ Entsetzen in eine Holzkiste neben dem Schrein zu werfen. Anschließend zündete sie eine der Kerzen an, sichtlich zufrieden, diese bezahlen zu können. Bald darauf setzte das krächzende Lamentieren von Neuem ein.
»Verzeihen Sie bitte, aber ich muss nach draußen gehen. Mir ist nicht ganz wohl«, flüsterte Alice der betenden Aurelia Duarte zu, die nur kurz mit dem Kopf nickte. Kaum war das Kirchenportal hinter ihr zugefallen, atmete Alice befreit auf. Sie genoss die vom Regen saubere Luft und die Klarheit des Lichts. Harry musste eine profunde Atheistin aus ihr gemacht haben, überlegte sie, während sie sich nach Benito Duarte umsah, der ebenfalls nicht in der Kirche hatte bleiben wollen. Sie entdeckte ihn auf dem Platz davor unter einer Palme sitzend, wo er mit ein paar anderen alten Männern redete und eine Zigarre rauchte, was er in Aurelias Gegenwart nie zu tun wagte. Mit einem freundlichen Nicken ging sie an ihm vorbei, denn sie wollte seine Unterhaltung nicht stören. Im Hintergrund hatten ein paar Indios Verkaufsstände mit Tortillas, Pozol und buntem Perlenschmuck aufgebaut. Alice flanierte an den dargebotenen Waren vorbei, als ein kleiner Mann in einem gestreiften Überwurf sie am Ärmel zupfte.
»Señorita mag indianische Sachen? Mitkommen. Schauen.«
Alice wurde bewusst, dass sie die von Elaine erworbene Kleidung trug, ebenso wie den breiten Hut, den Juan Ramirez ihr gegeben hatte, denn er schützte tatsächlich besser als ihr eigener vor der sengenden Sonne und ermöglichte es ihr zudem, ihr Haar zu verbergen, sodass sie nicht ständig angestarrt wurde. Allerdings konnte diese Aufmachung durchaus als Vorliebe für einheimische Kleidung ausgelegt werden. Sie hätte auch gerne etwas eingekauft, erinnerte sich aber an ihren Vorsatz, in Zukunft sparsamer zu sein. Dennoch, es würde nichts kosten, sich die Waren dieses Mannes anzusehen, überlegte sie, und nach dem unangenehmen Erlebnis in der Kirche war sie dankbar für ein wenig Ablenkung.
Sie folgte ihm in eine kleine Gasse, die vom Kirchplatz wegführte. Es roch dort nach faulem Wasser, was an der Nähe zum Fluss liegen konnte. Alice sah sich mehrfach um, damit sie den Weg zurück finden konnte, und stellte beruhigt fest, dass die Gasse schnurgerade war, auch wenn sie immer enger und dunkler wurde. Sie watete inzwischen durch klebrigen Schlamm.
»Wie weit ist es noch? Ich habe nicht viel Zeit«, sagte sie etwas verärgert zu dem kleinen Indio, der ihr nicht verraten hatte, dass sie einen längeren Weg vor sich hatten.
»Keine Sorge. Gleich da.«
Er ließ lächelnd drei dunkle Zahnlücken sehen. Auf dem Kirchplatz war er eine beklagenswert arme, aber harmlose Erscheinung gewesen, doch nun vermeinte sie ein verschlagenes Funkeln in den dunklen Augen zu erkennen. Beunruhigt blieb sie stehen.
»Es tut mir leid, aber ich muss zur Kirche zurück. Man wartet auf mich«, murmelte sie und wandte sich rasch zum Gehen.
»Gleich da. Ein Moment. Gleich da«, wiederholte er und packte ihren Ärmel. Empört wollte Alice sich losreißen, aber sein Griff war hartnäckig, umklammerte nicht mehr nur den Stoff ihrer Bluse, sondern auch ihren Ellbogen.
»Was soll das? Lass mich los!« Der Indio reagierte nicht, und ihr wurde bewusst, dass sie deutsch gesprochen hatte. Auch ein hartnäckiges, empörtes Zerren half nicht, sich ihm zu entwinden. Aus dem eben noch lächelnden Gesicht war alle Freundlichkeit gewichen, es hatte sich innerhalb weniger Augenblicke in eine
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