Der Duft des Regenwalds
zu müssen. Die Eisenbahnlinie war vor zwölf Jahren fertiggestellt worden und verband den Stillen Ozean mit dem Golf von Mexiko, an einer Landenge, genannt Isthmus de Tehuantepec. All dies erzählte Dr. Scarsdale, während sie am nächsten Morgen die unter der üblichen pechschwarzen Bohnensauce verborgenen Eier verspeiste. Sie hatte unerwartet gut geschlafen und war voller Energie erwacht, doch ein Blick in das missmutige Gesicht des Gelehrten gab ihr das Gefühl, sich am Vortag durch Dummheit blamiert zu haben.
»Was ist mit unseren Karren und den Pferden?«, fragte sie.
»Die nehmen wir natürlich nicht mit«, erwiderte der Gelehrte. »Die Duartes haben weiterhin Verwendung für sie, denn nach Yucatán fährt keine Eisenbahn.«
Alice warf einen Blick auf das vertraut nebeneinandersitzende grauhaarige Paar.
»Heißt das, wir trennen uns nun?«, fragte sie, selbst überrascht, wie sehr diese zwei schrulligen alten Menschen ihr ans Herz gewachsen waren.
»Das eine ergibt sich zwangsweise aus dem anderen, Miss Wegener«, sagte Dr. Scarsdale. »Da wir in zwei verschiedene Richtungen fahren, können wir es schlecht gemeinsam tun.«
Sie hörte, wie Juan Ramirez sich verlegen räusperte, und ließ langsam ihre Gabel sinken.
»Ich entschuldige mich für meine mangelnden Kenntnisse der Geografie Mexikos«, sagte sie lauter als notwendig. »Wenn meine dummen Fragen Ihre Geduld derart strapazieren, Mr Scarsdale, werde ich mich in Zukunft selbstverständlich an jemand anderen wenden.«
Die Duartes warfen sich ratlose Blicke zu, denn sie verstanden beide kein Wort Englisch, hatten aber sehr wohl Alice’ eisigen Tonfall wahrgenommen. Juan Ramirez stieß einen leisen Pfiff aus. Die blassen Augen von Dr. Scarsdale musterten Alice mit ehrlichem Staunen.
»Ich bedauere mein Benehmen«, sagte er unumwunden. »Die Ereignisse der letzten Zeit haben meine Nerven sehr strapaziert, ebenso wie vermutlich auch Ihre, Miss Wegener. Bitte entschuldigen Sie meinen unfreundlichen Tonfall.«
Sie atmete auf und lächelte ihn an. Die Erkenntnis, dass auch rechthaberische Männer manchmal mit sich reden ließen, versöhnte sie mit diesem Tag.
»Also, wenn man Schokolade richtig zubereitet«, begann Aurelia Duarte, während sie beide ihre Habseligkeiten in Koffer legten, »müssen die Kakaobohnen zunächst geröstet und dann auf einem Mahlstein zerquetscht werden, ähnlich wie Mais für die Tortillas. Dann wird zu einem Drittel Zucker hinzugemischt oder auch andere Gewürze, je nach Geschmack, und alles noch mal durchgeknetet, bis eine gleichmäßige, zähflüssige Masse entsteht. Die formt man zu Kugeln oder Tafeln und lässt sie an der Luft trocknen. Wenn Sie die Schokolade trinken wollen, dann erhitzen Sie Wasser oder Milch und …«
»Vielen Dank für diese Ausführungen«, unterbrach Alice sie, die sich ein wenig an Tante Gretes besserwisserische Fürsorge erinnert fühlte. »Aber unterwegs werde ich kaum Möglichkeiten haben, Schokolade zuzubereiten. Ich halte mich hier nur für ein paar Monate auf, bin sozusagen auf der Durchreise, und in meiner Heimat, da habe ich nicht einmal eine eigene Küche.«
Aurelia Duarte musterte sie erstaunt.
»Irgendwann wollen Sie doch sicher ein Zuhause und eine Familie haben«, meinte sie ein wenig empört. »Und unterwegs, also in Chiapas, da gibt es nicht überall Herbergen, wo Reisende großzügig bekocht werden. Ich dachte einfach, es wäre eine Hilfe für Sie, wenn Sie wissen, wie Sie selbst Ihre Schokolade zubereiten können.«
Alice klappte ihren Koffer zu und sank seufzend auf das Bett. Warum wollte sie mit dieser mütterlichen alten Dame streiten?
»Das war auch sehr freundlich von Ihnen«, gab sie nach. »Ich wollte nur vermeiden, dass Sie sich meinetwegen unnötig Mühe machen.«
»Aber das tue ich doch gern!«
Das faltige Gesicht leuchtete auf über die unerwartete Anerkennung, sodass Alice sich fast schämte, die Señora nicht mehr beachtet zu haben. Dann fiel ihr plötzlich wieder ein, weshalb sie zunächst Abstand von dieser Frau gewahrt hatte. Sie holte Luft. Auf einmal drängte es sie, die Wahrheit zu erfahren.
»Señora Duarte, vielleicht erinnern Sie sich an den Abend, als wir uns das erste Mal gemeinsam ein Zimmer teilten.«
Die alte Dame legte sorgfältig ihr Nachthemd zusammen, obwohl es im Koffer ohnehin wieder verknittern würde.
»Ja, ich erinnere mich. Es war eine schöne Herberge, sehr sauber und nett eingerichtet. Nur hatten die Besitzer ein paar merkwürdige
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