Der Duft des Regenwalds
zahlreiche Gemälde und Zeichnungen ihres Vaters zeigte. Er war ein fleißiger, gründlicher, wenn auch nicht sehr origineller Maler gewesen, dachte Alice, war aber bemüht, sich lobend zu äußern. Elaine nahm dies eher gleichmütig hin, dann lief sie in eine Kammer, um farbenfrohe Indio-Kleidung, Schmuck und auch geflochtene Ledersandalen zu holen, die sie vor Alice ausbreitete.
»Huaraches.« Sie wies auf die Sandalen. »Sehr bequem. Das ideale Schuhwerk in dieser Hitze.«
Alice begann allmählich zu ahnen, dass es Elaine vor allem darum ging, die Früchte emsiger Arbeit ihrer Verwandtschaft gewinnbringend zu verkaufen. Da sie selbst in den letzten Jahren gelernt hatte, wie hart der Kampf ums tägliche Überleben sein konnte, fühlte sie sich nicht wirklich gekränkt, sondern erwarb ein Paar jener Schuhe, einen weiteren Rock und zwei Blusen, die, wie Elaine erklärte, Huipil genannt wurden. Mit dem Versprechen, morgen vor der Abreise zu zahlen, trug sie ihren neuen Besitz die Treppe hoch. Unten tranken die Männer weiter. Die zwei Ernestos hatten leider wieder zu singen begonnen, Frederick Palmer stimmte mit ein, und schließlich glaubte Alice, auch Elaines tiefe, kräftige Stimme zu hören. Sie selbst fühlte sich auf einmal derart erschöpft, dass ihr fast die Augen zufielen. Im Obergeschoss brannte nur eine einzige Lampe in einer Nische, die spärliches Licht auf die Wände warf. Alice tastete sich zu dem Zimmer vor, in dem weibliche Gäste untergebracht waren. Leise Schnarchgeräusche drangen an ihr Ohr, die sie zunächst verwirrten, bis ihr die alte Señora wieder einfiel. Die Fensterläden hatte sie offen gelassen, sodass Mondlicht ins Zimmer drang. Alice eilte zu ihrem Bett, nur noch angetrieben von dem Wunsch, unter die Decke kriechen und die Augen schließen zu können. Ihr Fuß stieß gegen etwas Hartes, und Schmerz zuckte durch ihren Knöchel. Mit einem leisen Fluch ließ die neu erworbene Kleidung fallen.
Sie landete dort, wo sie hingehörte: im Koffer, der offen stand und an dessen Deckel Alice sich gerade angestoßen hatte. Verwirrt rieb sie sich die Schläfen, denn etwas schien nicht zu stimmen. Sie war sich völlig sicher, den Koffer geschlossen zu haben, bevor sie das Zimmer verließ. Ratlos sank sie aufs Bett, das sie in seine weichen Tiefen lockte. Sie warf noch einen kurzen Blick auf ihre zerwühlten Habseligkeiten, die sie ordentlich zusammengelegt hatte. Zum Glück waren sämtliche Malutensilien unter der Plane auf dem Karren geblieben, sodass niemand sie durch Unachtsamkeit hatte beschädigen können.
Aber wer war es gewesen, der in ihrem Koffer herumgewühlt hatte? Ihr fiel nur die alte Señora ein, die vielleicht größere Not litt, als sie zugeben wollte, und daher nach Diebesgut gesucht hatte. Leider passte diese Vorstellung nicht zu dem frommen Gesichtsausdruck der alten Frau, sodass es Alice widerstrebte, sie zu wecken und zur Rede zu stellen. Unruhig tastete sie nach dem Beutel mit ihrem Schmuck und trug ihn zum Fenster. Ihre bescheidene Sammlung war vollständig, und da ihre sämtlichen finanziellen Reserven sich in dem Ridikül befanden, das sie stets bei sich trug, sah sie keinen Grund zur Beunruhigung.
Vermutlich hatte die alte Mexikanerin ihr Gepäck aus reiner Neugier durchwühlt, erwog Alice, bevor sie endlich die Augen schloss.
Sie bekamen von Elaine noch ein herzhaftes Frühstück aus Hackfleisch, Kartoffeln und Eiern serviert, das von einer pechschwarzen Bohnensauce bedeckt war. Dann ging die Reise weiter. Alice übergab der Gastgeberin die geforderte Geldsumme, denn angesichts Elaines Freundlichkeit schien es ihr unhöflich zu feilschen. Zu ihrer Überraschung gesellte das alte mexikanische Paar sich zu ihnen, bevor sie wieder den Wagen bestiegen, und begann eine Unterhaltung mit Juan Ramirez.
»Die fragen, ob sie mit uns fahren können. Bis nach Minatitlán. Sie würden sich auf den Straßen sicherer fühlen«, übersetzte er und sah Dr. Scarsdale fragend an. Der Archäologe blickte mit gerunzelter Stirn von Señor zu Señora und schließlich zu ihrem recht klapprigen Gefährt, vor dem ein Maultier mit gesenktem Kopf der Dinge harrte.
»Diese Leute werden uns unterwegs vielleicht aufhalten«, sagte er auf Englisch zu Juan Ramirez, der schwieg. Alice tat das hilflose, unerwünschte Ehepaar plötzlich leid.
»Eine Weile können wir sie ja mitnehmen und sehen, wie es geht«, mischte sie sich in die Entscheidung ein, obwohl niemand nach ihrer Meinung gefragt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher