Der Duft des Regenwalds
an ihnen vorbei, allesamt Indios, die sich mit gesenkten Köpfen dahinschleppten, als seien sie bereits am Ende ihrer Kräfte. Ihre Füße waren mit Seilen aneinandergebunden, sodass es dem Einzelnen unmöglich war, sich aus der Gruppe zu entfernen. Unmittelbar daneben entdeckte sie den Vater der zwei Jungen. Er hing in dem eisernen Griff eines großen, wuchtigen Mannes, der dunkle Haut hatte, doch über mehr Autorität zu verfügen schien als die Gefesselten. An seiner Seite stand ein weiterer Mann mit hellbraunem Haarschopf, der herumbrüllte. Alice vermochte die Lage nicht wirklich zu erfassen, aber sie ahnte, dass ihrem Reisebegleiter Gefahr drohte.
»Que pasa?«, rief sie nach unten, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Kinder blickten hoch, und auf ihren Gesichtern zeigte sich Erleichterung. Einer lief zu den zwei Männern, die seinen Vater festhielten, wies auf Alice und sagte irgendetwas.
Alice wünschte sich Dr. Scarsdale oder Juan Ramirez an ihrer Seite, doch sie wagte es nicht umzukehren, sondern eilte entschlossen auf diese Leute zu. Als sie angekommen war, wurde ihr bewusst, welchen Anblick sie bieten musste. Eine blonde Frau in indianischer Kleidung, unter deren Rock die Spitzen von Pantalons zu sehen waren! Zudem hatte sie den mexikanischen Männerhut auf dem Kopf, da Juan Ramirez sie auf die Notwendigkeit hingewiesen hatte, sich gerade in den Bergen trotz kühlerer Temperaturen vor der Sonne zu schützen. Sie straffte die Schultern, als sie in die neugierigen Gesichter der Männer blickte. Sogar unter den ausgezehrten Indios sorgte ihr plötzliches Auftauchen für staunende Rufe.
»Wer sind Sie?«, kam es barsch auf Spanisch. Ihr war klar, dass der Mann mit dem hellbraunen Haar gesprochen hatte, und sie wandte sich ihm zu.
»Mein Name ist Alice Wegener. Ich bin Deutsche.«
Sie wusste nicht genau, warum sie ihre Nationalität erwähnt hatte, doch es schien Eindruck zu machen. Die Miene des Mannes wurde ein wenig respektvoller. Er hatte helle, europäische Haut und indianisch schräge Augen. An seinem Gürtel hing eine Pistole, wie Alice zu ihrem Unbehagen bemerkte.
»Was machen Sie hier, Señora?«, fragte er in einem normalen Tonfall.
»Ich bin auf dem Weg nach … Tuxtla … also der Hauptstadt von Chiapas. Dort erwartet mich ein deutscher Kaffeebaron namens Hans Bohremann.«
Sie dankte einem Gott, an den sie nicht glaubte, dass sie wenigstens diesen Namen behalten hatte. Etwas wie Erkenntnis blitzte in den Augen des braunhaarigen Mannes auf, und er tauschte ratlose Blicke mit dem Kerl, der den Indio festhielt.
»Sie reisen doch nicht allein?«, knurrte er abfällig. Alice wurde bewusst, wie hilflos sie als Frau allein in dieser Wildnis war, wie sehr auf männlichen Schutz angewiesen. Sie hasste diesen Zustand.
»Ich reise mit einem amerikanischen Archäologen und dem Schwager von Hans Bohremann. Beide können gleich hier sein, wenn ich sie rufe«, erklärte sie, was keinen großen Eindruck machte. Der Braunhaarige sah sie abwartend an.
»Und dieser Indio« – sie wies auf den Vater der Jungen –, »das ist der Führer, den wir bereits bezahlt haben, damit er uns sicher ans Ziel bringt. Daher bitte ich Sie, ihn wieder loszulassen, denn wir können auf seine Dienste schlecht verzichten und … und Herr Bohremann wäre sehr ungehalten, wenn wir verspätet einträfen.«
Sie hatte selbstbewusst und überzeugend geklungen, wie sie an der freundlicher werdenden Miene des Mannes erkannte. Kurz beriet er sich mit dem breitschultrigen Kerl an seiner Seite, dann bekamen die zwei Jungen ihren Vater zurück. Sie pressten sich stumm an ihn, während er ihnen mit den Fingern durchs Haar fuhr. Alice warf er nur einen knappen Blick zu. Sie ahnte, dass es ihm unangenehm war, ausgerechnet von einer Frau gerettet worden zu sein. Angesichts der erschöpften Mienen der anderen Indios, die mit Stockhieben weitergetrieben wurden, konnte Alice ihm seinen Männerstolz vergeben. Gemeinsam mit dem Hund stiegen sie alle wieder den Felsen hinauf. Alice sah sich kurz um und überlegte, ob es sich um Sträflinge handelte. Aber warum wäre dann der Vater der zwei Jungen fast mitgenommen worden?
»Gracias, Señorita«, murmelte der Jüngere der zwei Knaben, während er sie am Ärmel zupfte. Alice lächelte ihn an. Endlich einmal hatte sie in diesem verfluchten Land etwas richtig gemacht!
»Was wollten die denn von deinem Vater?«, fragte sie neugierig. Der Blick des Jungen verdüsterte sich.
»Ihn wieder auf die
Weitere Kostenlose Bücher