Der Duft des Regenwalds
Nachmittag verlief die Reise ohne weitere Zwischenfälle. Alice stellte fest, dass ihr Rücken etwas weniger schmerzte als am Vortag, da sie sich an das Reiten zu gewöhnen begann. Mittags wurde in einem kleinen Dorf haltgemacht, wo sie mit schlichten Tortillas und Pozol versorgt wurden, doch diese Mahlzeit schmeckte in der bergigen Umgebung unerwartet gut und schenkte neue Energie. Kurz nachdem sie das Dorf verlassen hatten, schloss sich ihnen ein kleiner, brauner, zotteliger Hund mit riesigen Ohren an, der bis auf die Knochen abgemagert war. Alice beobachtete, wie die Indio-Jungen eine der Tortillas an ihn verfütterten, und beschloss, auch von ihrer Ration etwas abzugeben. Die Kinder wichen zurück, als sie sich näherte, doch sobald sie ihre Absichten erkannt hatten, traten sie grinsend an ihr Pferd heran und sahen dem Hund beim Fressen zu. Alice, die sich bisher nichts aus Kindern gemacht hatte, staunte, wie viel Freude sie über diesen zaghaften Vertrauensbeweis empfand. Allein der Vater hielt weiterhin Abstand, musterte sie mit einem misstrauischen, fast feindseligen Blick, als sei sie eine Verführerin unschuldiger Seelen, und rief seinen Söhnen ein paar barsche Worte zu, woraufhin sie wieder zu ihren Eseln liefen.
Die nächste Rast fand erst am späten Nachmittag statt, da es kälter zu werden begann und Dr. Scarsdale erneut Decken verteilte. Alice nutzte den Moment, um ihre restlichen Tortillas zu verzehren, denn sie wusste nicht, wann sie die nächste Herberge erreichen würden. Juan Ramirez ließ sich ein Stück neben ihr auf einem Felsen nieder und aß ebenfalls. Dann holte er die Tequilaflasche aus seiner Jacke, um sie Alice anzubieten. Sie nippte dankbar daran, denn sie wusste, dass ihr dadurch wärmer wurde und ihre Lebensgeister erwachten. Dr. Scarsdale war in eine Landkarte vertieft, sodass sie alle eine Weile ausruhen konnten. Der Hund begann bellend loszulaufen, vermutlich angelockt durch den Geruch eines Wildtieres, und die zwei Indio-Jungen rannten hinter ihm her. Ihr Vater brüllte ein paar Worte, doch als sie ihm wider Erwarten nicht gehorchten, nahm auch er die Verfolgung des Hundes auf, sodass sie alle auf der anderen Seite des Felsens verschwanden. Alice lächelte. Ein wenig beruhigte es sie, dass Kinder sich nirgends auf der Welt problemlos erziehen ließen.
»Un cigarillo?«, bot Juan Ramirez noch mal an, und Alice griff zu. Kurz lächelten sie einander an. Er sah immer noch sehr gut aus, befand Alice und ärgerte sich, dass seine Nähe sie auf einmal wieder verlegen machte.
»Nicht bewegen!«, sagte er plötzlich mit todernster Miene. Seine Augen schienen größer geworden zu sein.
»Aber warum …«
»Bewegen Sie sich nicht, und sehen Sie nicht nach unten!«
Es klang so dringlich, dass Alice gehorchte. Sie sah, wie er sich zu ihren Füßen hinabbeugte und schnell und energisch seine Hand bewegte.
»Alles in Ordnung«, sagte er dann erleichtert. Alice musste kichern.
»Wollten Sie mir die Schuhe abwischen?«
Juan Ramirez warf ihr einen Blick zu, den sie überheblich fand.
»Nein, ich habe nur einen Skorpion von Ihrem Fuß entfernt. Die Kleinen sind am gefährlichsten.«
Alice schnappte nach Luft.
»Ist es in diesem Land eigentlich niemals möglich, einfach entspannt dazusitzen, ohne dass man fürchten muss, überfallen oder von giftigen Tieren gestochen zu werden?«, fragte sie, ohne genau sagen zu können, woher ihr Ärger kam. Juan Ramirez lächelte selbstgefällig.
»Man muss sich hier auskennen«, entgegnete er. »Für Fremde ist es schwer. Aber ich bin gern bereit, Ihnen als Ratgeber zur Seite zu stehen.«
Alice hatte das Gefühl, er wolle einen Arm um ihren Rücken legen, und schoss in die Höhe. Sie mochte dieses Beschützergehabe nicht.
»Ich sehe mal nach dem Hund und unseren Indios«, sagte sie und ging los, bevor er etwas erwidern konnte. Auf der anderen Seite des Felsens führte ein breiterer Pfad nach unten. Sie machte ein paar Schritte, da hörte sie auch schon ein Bellen und das Rufen der Kinder, das erstaunlich wehleidig klang. War dem Hund etwas geschehen? Dann nahm sie tiefere Stimmen wahr, die Befehle zu rufen schienen. Alice wurde von einem unguten Gefühl erfasst. Sie erwog kurz, ihre zwei männlichen Begleiter zu holen, doch die Lage war vielleicht dringlich, und daher lief sie weiter, um nachzusehen.
Sie erblickte den Hund, der völlig unversehrt zwischen den zwei Jungen ein Stück weiter unten auf dem Pfad saß. Eine lange Menschenkette trottete
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