Der Duft des Regenwalds
Plantage holen. Er hat letztes Jahr etwas unterschrieben, und seitdem machen sie mit ihm, was sie wollen«, antwortete sein Bruder. Auch er musste älter sein, als Alice ihn zunächst eingeschätzt hatte, denn seine Stimme klang erwachsen, klug und vor allem wütend.
»Aber was hat er denn unterschrieben?«, fragte sie.
»Ein Papier«, erwiderte der Jüngere, was nicht unbedingt hilfreich war. »Unsere Mutter war krank, und um den Arzt zu bezahlen, da …«
Der Indio, der ein Stück vor ihnen herlief, drehte sich um und herrschte seine Söhne an.
»Und warum soll ich den Mund halten, erkläre mir das bitte? Warum soll es niemand wissen?«, gab sein älterer Sohn trotzig zurück, um sich dann wieder an Alice zu wenden.
»Männer kamen in unser Dorf. Ladinos.«
Diesen Begriff kannte Alice inzwischen. Ladinos waren Mischlinge aus Weißen und Indianern, manchmal wurden auch alle Nichtindianer so genannt.
»Sie versprachen gut bezahlte Arbeit bis zum nächsten Frühjahr auf den Plantagen im Soconusco. Mein Vater nahm das Angebot an, damit er die Rechnung beim Arzt bezahlen konnte, aber meine Mutter starb trotzdem, und ihn verschleppte man auf die Plantage. Als er wieder zurückkam, war er geschwächt und hatte Fieber. Geld brachte er keines mit. Angeblich hatte er Schulden und sollte nächstes Jahr wieder auf die Plantage, um sie abzuarbeiten.«
»Dann kam das Angebot, euch nach Tuxtla Gutiérrez zu bringen, und er dachte, er wäre weg, wenn die Männer kommen, ihn zu holen«, fuhr der jüngere Bruder fort. »Aber leider liefen wir hier auch solchen Männern über den Weg. Sie hatten meinen Vater letztes Jahr auf der Plantage gesehen und konnten sich an ihn erinnern.«
Alice schüttelte verwirrt den Kopf. Vielleicht hatte der Mann den gesamten Arbeitslohn verspielt oder versoffen und dabei auch noch Schulden gemacht. Allerdings hatte sie ihn seit Beginn der gemeinsamen Reise kein einziges Mal angetrunken erlebt.
»Was stand denn in dem Vertrag, den er unterschrieben hat?«, fragte sie in der Hoffnung, das Rätsel auf diese Weise lösen zu können. Vielleicht hatte es eine Verpflichtung zu mehrjähriger Arbeit gegeben, die er übersehen hatte.
Der jüngere Bruder sah sie mit großen, staunenden Augen an, der Ältere schnaubte wütend. Alice begriff, dass sie eine sehr dumme Frage gestellt hatte.
»Wie heißt ihr zwei eigentlich?«, fragte sie, um von dem verlegenen Schweigen abzulenken. Zwei Tage nach dem gemeinsamen Aufbruch erfuhr sie, dass der ältere Junge Carlos hieß, sein Bruder Julio. Der Vater, der sich immer noch weigerte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, trug den Namen Marco García.
»Und wie sollen wir den Hund nennen?« Alice versuchte, für Unterhaltung zu sorgen, als bereits die Pferde vor ihnen auftauchten. Carlos gab ihr durch Schweigen zu verstehen, dass er sich nicht mit derartigem Kinderkram befasste, doch Julio taufte das kleine braune Tier Mariana.
»So hieß unsere Mutter«, erklärte er ernst. »Und dieses Tier ist eine Hündin.«
Alice nahm es hin, dass sie nun selbst als unwissend entlarvt worden war.
»Das waren Enganchadores«, erklärte Juan Ramirez, während er rauchend neben ihr auf dem breiten Pfad ritt. »Sie werden im September und Oktober losgeschickt, um Arbeiter für die Kaffee-Ernte anzuwerben. Diese waren aus irgendeinem Grund schon früher unterwegs.«
»Und warum werden die Arbeiter wie Sträflinge verschleppt?«, fragte Alice. Juan Ramirez wich ihrem Blick aus und blies Rauch in den klaren Himmel. Sie kamen an einer Eiche vorbei, auf der strahlend weiße Orchideen wuchsen, und der Zauber dieses Anblicks lenkte Alice für einen Moment ab. Ein paar kleine, milchfarbene Wolken tummelten sich am Horizont, und die Sonne begann hinter den Bergen zu versinken. Dr. Scarsdale hatte versichert, zur nächsten Herberge sei es nicht mehr weit.
»Viele von ihnen unterschreiben zunächst den Vertrag, aber dann überlegen sie es sich anders«, erklärte Juan Ramirez nach einer kurzen Pause des Nachdenkens. »Sie wollen die eingegangene Verpflichtung nicht erfüllen. Sogar unterwegs würden sie weglaufen, wenn man sie nicht bewacht.«
Alice schüttelte den Kopf.
»Aber warum sollten sie eine Arbeit zunächst wollen und dann wieder nicht? Das sind noch meist sehr arme Leute. Sie könnten froh sein, sich etwas Geld dazuzuverdienen.«
Juan Ramirez hob seine Hände, um Ratlosigkeit auszudrücken.
»Die Arbeit ist wohl härter, als sie erwarten«, schlug er als mögliche
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