Der Duft des Regenwalds
geebneter Weg führte dorthin. Das Tor stand bereits einladend offen. Der Patio, ein Innenhof, wie er in fast allen mexikanischen Häusern zu finden war, tat sich auf, doch er war größer als alles, was Alice bisher gesehen hatte. Pfirsichbäume wuchsen in ihm, Rosenstauden, Orchideen und andere Pflanzen, die Alice unbekannt waren. Der Garten des Hotels in Veracruz war armselig gewesen im Vergleich zu jener Pracht, die sie hier erblickte. Bunte Papageien flatterten kreischend herum, als hätten sie freiwillig beschlossen, diesen Ort zu ihrer Heimat zu machen. Zwei davon ließen sich sogleich auf der Schulter von Hans Bohremann nieder, der sie so liebevoll wie leibliche Kinder begrüßte. Dienstboten huschten geräuschlos im Hintergrund herum. Erst als Alice’ Sänfte auf dem Boden abgesetzt worden war, bemerkte sie einige jener Gestalten, die stumm auf Anweisungen warteten. Sie hatten allesamt indianische Gesichter, doch europäisch anmutende Kleidung in gedämpften Farben, die nicht so recht zu all dieser exotischen Pracht passen wollte.
Eine mittelgroße, schlanke Frau schritt bedächtig die Stufen in den Hof hinab, um die Neuankömmlinge zu empfangen. Sie trug einen schlichten, streng geschnittenen Rock aus schwarzem Tuch und eine blütenweiße, hochgeschlossene Bluse. Ihr glattes schwarzes Haar war zu einem Knoten geflochten. Sie bewegte sich mit der Eleganz einer Tochter aus begüterten Kreisen, die von klein auf damenhaftes Auftreten gelernt hatte, und hätte durchaus eine europäische Dame sein können, doch dafür war ihr Gesicht um die Wangen zu breit und die Haut ein klein wenig zu dunkel. Das fremde, vermutlich indianische Blut in ihren Adern ließ sich nicht verleugnen, auch wenn sie sich die größte Mühe zu geben schien. Alice überlegte, dass ein paar landesübliche Blumen im Haar nicht geschadet hätten, um die puritanische Strenge dieser Erscheinung abzumildern, doch als die Frau unmittelbar vor ihr stand, vermochte sie nur noch zu starren. Sie hatte niemals derart harmonische Gesichtszüge gesehen –, elegant geschwungene, schwarze Brauen und makellos geformte, große Augen unter dichten Wimpern. Das Gesicht war frei von Schminke, doch wirkten die Lippen so tiefrot und weich, dass man Sehnsucht empfand, sie zu berühren. Diese Frau war dazu geboren, Malern als Modell zu dienen, dachte Alice und fragte sich, womit sie hier wohl ihre Tage zubrachte.
Hans Bohremann sprang von seinem Ross und schloss die dunkle Schöne vor allen Versammelten innig in die Arme. Diese Begrüßung verriet weitaus mehr Gefühl, als Alice diesem Mann zugetraut hätte.
»Rosario, meine Frau«, erklärte er mit unverhohlenem Stolz. Dr. Scarsdale machte eine kurze Verbeugung, während Juan Ramirez seine Schwester anlächelte. Alice bemerkte die Ähnlichkeit zwischen beiden, jene harmonische Form von Gesicht und Augen, die bei beiden Geschlechtern anziehend wirkte, doch Rosario war etwas steifer als ihr Bruder, kontrollierter und vorsichtiger. Trotz ihrer traumhaft schönen Erscheinung konnte Alice sich diese Frau nicht wirklich in Boheme-Kreisen vorstellen.
»Das ist die Schwester von Patrick Wegener«, wurde Alice vorgestellt. »Sie möchte verständlicherweise mehr über die Umstände des Todes ihres Bruders erfahren, und ich habe ihr daher angeboten, für eine Weile unser Gast zu sein.«
Rosarios Lippen formten ein Lächeln, doch ihre Augen blieben davon unberührt.
»Es ist mir eine Freude, Sie in unserem Heim begrüßen zu dürfen. Fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte die dunkle Schöne auf Deutsch. Ihre Aussprache war mit einem harten Akzent behaftet, doch bemerkte Alice, dass ihr kein einziger Grammatikfehler unterlaufen war.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich werde mir die größte Mühe geben, Ihnen nicht zur Last zu fallen«, versicherte sie. Es waren hohle Worte, das wusste sie, denn sie würde allen und jedem zur Last fallen, wenn sie sich davon eine Klärung der Umstände von Patricks Tod erhoffte.
»Ich werde ein Abendessen auftragen lassen, denn nach der langen Reise sind sicher alle hungrig«, bot die Hausherrin großzügig an. Alice versteifte sich. In Wahrheit war sie unerträglich müde, wollte nichts weiter als ein paar Happen essen und dann auf ein Bett fallen. Allerdings wusste sie inzwischen, dass in Mexiko oft sehr spät gegessen wurde und dass Leute sehr empfindlich reagierten, wenn ihre Gastfreundschaft abgelehnt wurde.
»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig«, versuchte sie es
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