Der Duft des Regenwalds
wie möglich zu meiner Grabungsstätte zurückkehren, wofür Sie hoffentlich Verständnis haben.«
Alice verzieh ihm diese Unhöflichkeit, denn sie verstand, wie wichtig ihm seine Forschungen waren. Gleichzeitig spürte sie ein blaues und ein dunkelbraunes Augenpaar erwartungsvoll auf sich ruhen. Alle drei Herren warteten auf eine Antwort. Sie ließ den Löffel sinken. Auf einmal schien ihr Kopf leer zu sein. Sie hatte an den Ort gelangen wollen, wo Patrick gestorben war, aber was wollte sie dort tun?
»Was die Überführung des … des Leichnams betrifft, so habe ich bereits alle Vorkehrungen getroffen«, sagte Hans Bohremann diesmal auf Englisch. »Der hier residierende Provinzgouverneur ist ein guter Freund von mir, machen Sie sich also keine Sorgen wegen eines möglichen Papierkriegs. Vielleicht wäre es in diesem Fall aber besser, den Seeweg zu wählen, von Tapachula an der Pazifikküste aus.«
Alice seufzte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo Tapachula lag und wie ein Schiff von dort aus nach Deutschland gelangen konnte. Sie fühlte sich von den Informationen erschlagen, als wollten die drei hier versammelten Männer alles an ihrer Stelle regeln und sie baldmöglichst wieder nach Hause schicken.
Eine Idee keimte in ihrem Kopf. Patrick hatte sein Leben lang davon geträumt, Mexiko zu sehen. Er hatte hier die Liebe gefunden, ganz gleich, ob dieses Mädchen nun eine Betrügerin gewesen war oder nicht.
»Mein Bruder könnte auch hier beerdigt werden«, sagte sie ohne Zögern. »Die Überführung des Sarges nach Berlin wäre höchst umständlich. Er mochte dieses Land, das stand alles in seinen Briefen.«
Hans Bohremann räusperte sich, Dr. Scarsdale machte zum ersten Mal, seit Alice ihn kannte, einen verblüfften Eindruck, und Juan Ramirez grinste für einen kurzen Augenblick, als gefalle es ihm, wie sie alle aus dem Konzept gebracht hatte.
»Ihr Bruder war Protestant, vermute ich.« Hans Bohremann griff ihren Vorschlag auf. Alice wollte darauf hinweisen, dass weder sie selbst noch ihr Bruder jemals besonders gläubig gewesen waren, doch im letzten Augenblick verkniff sie sich diese Bemerkung, denn eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass sie bereits unkonventionell genug wirkte.
»Er wurde protestantisch getauft«, sagte sie daher nur. »Aber ich bin mir sicher, dass er nichts gegen eine katholische Beerdigung einzuwenden gehabt hätte.«
Kurz zerriss wieder der Schmerz ihre Brust. Wie gerne hätte sie hier in diesem Hotel mit der prächtigen Fassade, hinter der sich ein Mindestmaß an Komfort und miserables Essen verbargen, ihren Bruder begrüßt, um ihm die Eindrücke ihrer Reise mitzuteilen und zu erfahren, wie weit er mit den Ausgrabungen vorangekommen war. Sein Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, der oft gesenkte, unsichere Blick, die hohen Wangenknochen und das scheue Lächeln.
»Wir haben eine protestantische Kirche in Tapachula.« Hans Bohremann riss sie aus ihren Träumereien. »Doch wenn Sie eine katholische Beisetzung wünschen, rede ich mit dem Bischof. Auch er ist ein guter Bekannter.«
Alle wichtigen Leute hier waren gute Bekannte von Hans Bohremann, stellte Alice fest. Es überraschte sie nicht wirklich, denn bereits im Hause ihres Vaters hatte sie die Bedeutung des Geldes in dieser Welt kennengelernt.
»In San Cristóbal de las Casas, einer sehr alten Stadt nicht weit von hier, gibt es herrliche Kirchen«, schlug Juan Ramirez hilfsbereit vor. Alice nickte. Patrick sollte ein schönes Begräbnis bekommen.
»Haben Sie denn in der Heimat keinerlei Verwandtschaft?«, fragte der Kaffeebaron. »Ich meine, scheint es Ihnen denn richtig zu sein, Ihren Bruder hier in der Fremde zu begraben, ohne dass der Rest der Familie sich von ihm verabschieden kann?«
Alice schluckte. In ihrem Kopf nörgelte Tante Grete bereits, und angesichts des ernsten Blicks des Kaffeebarons spürte sie tatsächlich einen Hauch von schlechtem Gewissen. Tante Grete hätte eine große Beerdigung mit zahlreichen Gästen gewünscht, doch dies wären hauptsächlich Leute gewesen, denen Patrick zu Lebzeiten aus dem Weg gegangen war. Alice holte Luft. Sie würde die Dinge so regeln, wie ihr Bruder es sich gewünscht hätte. Noch war Tante Grete weit weg und hatte auch auf ihr Telegramm aus Veracruz nicht geantwortet. Alice hätte eine ganze Ozeanreise lang Zeit, um sich auf das Gespräch mit ihrer Tante vorzubereiten.
»Meine Familie wird Verständnis für meine Entscheidung haben«, log sie, ohne mit der
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