Der Duft des Regenwalds
trotzdem. »Ich könnte auf der Stelle einschlafen und brauche nur eine Kleinigkeit zu essen. Eine besonders gute Gesellschaft wäre ich jetzt ohnehin nicht.«
Sie sah sich unsicher nach Dr. Scarsdale und Juan Ramirez um, an deren Gesichtern sie sicher ablesen könnte, ob sie gerade unhöflich gewesen war. Sie verzogen keine Miene. Gleichzeitig bemerkte sie, wie Rosario ihren deutschen Ehemann ratlos anblickte. Als er kurz mit dem Kopf nickte, lächelte der wunderschöne Mund erneut.
»Gut, dann bringe ich Sie zu Ihrem Zimmer.«
Auch Rosario schien erleichtert, als sei sie selbst etwas unsicher im Umgang mit Fremden.
»Folgen Sie mir«, sagte sie zu Alice, die sich in Bewegung setzte, gefolgt von Mariana. Rosario wandte den Kopf, musterte den Hund und warf Alice einen fragenden Blick zu.
»Die Hündin gehört zu mir. Sie schläft in meinem Zimmer. Keine Sorge, sie wird nichts schmutzig machen.«
Rosarios Antwort war ein knappes Schulterzucken.
»Natürlich können Sie Ihren Hund mitnehmen. Die Diener kümmern sich um alles.«
Alice stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es ging Stufen hinauf, die zu jenem Gebäude führten, das den Innenhof umrahmte. Mit Blumen bepflanzte Balustraden erstreckten sich über mehrere Stockwerke, dahinter lagen Türen zu den einzelnen Räumen, die anders als in Europa nicht durch innere Korridore miteinander verbunden waren. Alice hatte derartige Häuser schon oft in Mexiko gesehen, doch niemals waren sie so groß und prächtig gewesen. Rosario lief langsamer, als wolle sie auf dem breiten Balkon neben Alice gehen. Schließlich standen sie wirklich Seite an Seite vor einer geschlossenen Tür.
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist«, sagte Rosario Bohremann in ihrem harten, makellosen Deutsch, »aber ich dachte, wenn Sie mehr über das Leben Ihres Bruders hier herausfinden wollen, dann möchten Sie vielleicht das Zimmer beziehen, in dem er wohnte, wenn er unser Gast war.«
Eine kalte Hand legte sich um Alice’ Herz. Angst krampfte ihren Magen zusammen.
»Ich habe es herrichten lassen, denn mein Mann ließ einen Boten vorausschicken, um mich über Ihre Ankunft in Kenntnis zu setzen.«
Bei den Bohremanns war alles perfekt organisiert, dachte Alice.
Sie holte Luft. Sie wollte tatsächlich mehr über Patricks Leben hier erfahren, auch wenn sie gern mehr Zeit gehabt hätte, sich innerlich auf das Betreten seines Zimmers vorzubereiten.
»Ich werde dort natürlich einziehen. Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen«, stimmte Alice höflich zu.
»Gut, dann zeige ich Ihnen das Zimmer.«
Rosario öffnete eine unverschlossene Tür, tastete sich durchs Halbdunkel und drehte eine Gaslampe auf. Alice sah sich um. Es war ein gewöhnliches Gästezimmer mit einem Bett, einem winzigen Tisch, vor dem ein Stuhl stand, und nichtssagenden Landschaftsbildern an der Wand. In der Ecke befand sich eine hölzerne Kiste, in der Patrick vermutlich seine Habseligkeiten verstaut hatte, wenn er hier wohnte. Aber man konnte sehen, dass sich schon eine ganze Weile niemand mehr hier aufgehalten hatte. Alles wirkte sehr ordentlich, als sei der Raum gründlich vorbereitet worden, um einen neuen Gast zu begrüßen. Alice blieb auf der Türschwelle stehen. Sie konnte nicht sagen, wovor sie Angst hatte, denn sie war niemals abergläubisch gewesen und glaubte daher auch nicht an Geister. Doch irgendwo hier in diesem fremden Raum meinte sie, Patrick zu spüren. Mariana lief unbeirrt in das Zimmer und rollte sich auf einem bunten Teppich zusammen. Alice war der Hündin dankbar, dass sie den Bann gebrochen hatte.
»Es ist ein schönes Zimmer. Es war sehr nett von Ihnen, es meinem Bruder zur Verfügung zu stellen«, sagte sie höflich, als ihr Rosarios Gegenwart wieder bewusst wurde. Die Hausherrin schenkte ihr ein Lächeln, das ebenso gekünstelt wirkte wie Alice’ Worte.
»Wir taten es gern. Ich werde den Dienern sagen, Ihr Gepäck hierherzubringen. Natürlich bekommen Sie noch eine Erfrischung. Ich freue mich darauf, Sie morgen beim Frühstück zu sehen.«
Alice lächelte, nickte und lächelte wieder. Sie sehnte sich danach, endlich mit Mariana allein zu sein. Als hätte Rosario diesen Wunsch erahnt, warf sie im Hinausgehen noch einen letzten Blick auf den Hund.
»Ich weiß nicht, woher Sie dieses Tier haben«, sagte sie. »Aber sind Sie sich sicher, dass es keine Flöhe hat?«
Alice schluckte verlegen, denn daran hatte sie nicht gedacht. Der Blick der Hausherrin schien ein wenig abfällig, als sei
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