Der Duft des Regenwalds
Rüschen verziert war, und hatte ihr Haar zu einem schlichten Zopf geflochten. Alice sehnte sich nach ihrem Skizzenblock, denn diese Frau schien dazu geboren, gelassen dazusitzen, bewundert und gemalt zu werden.
»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen«, begrüßte Rosario Alice. Ein anderes, jüngeres Dienstmädchen goss Schokolade in zarte Porzellantassen.
»Mein Mann ist schon wach, aber mit seinen Geschäftsbüchern beschäftigt«, erklärte Rosario. »Mein Bruder, fürchte ich, schläft gern lange, und der amerikanische Professor hat natürlich immer etwas zu tun, wie es eben die Art wahrer Gelehrter ist. Ich dachte, wir können uns in Ruhe eine Weile unterhalten, bevor das Frühstück im Salon serviert wird.«
Alice stimmte höflich zu, obwohl sie sich unwohl fühlte. Vielleicht lag es an der makellosen Erscheinung der Señora Bohremann, dass sie sich wie ein linkisches Schulmädchen vorkam, das Angst hatte, im nächsten Moment eine der kostbaren Tassen umzustoßen.
»Ihr Bruder sprach viel von Ihnen, als er hier war«, begann Rosario, nachdem sie an ihrer Schokolade genippt hatte. »Ich glaube, Sie standen einander sehr nahe.«
Alice nickte. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie blickte schnell weg.
»Zwischen mir und Juan ist es ebenso. Nach dem Tod meiner Eltern war er der einzige Mensch, den ich noch hatte. Bevor Hans kam. Sie selbst sind noch unvermählt, soviel ich weiß.«
Noch mal senkte Alice zustimmend den Kopf. Sie fragte sich, ob ledig zu sein in Rosarios Augen ein Makel war. Vermutlich verhielt es sich so, denn sie schien eine sehr konservative Frau.
»Ich hoffe, dass Sie in Ihrer Heimat bald den richtigen Mann fürs Leben finden«, meinte Rosario. Sie vermochte zu reden, ohne dabei das geringste Gefühl auszudrücken. »Das Leben ist hart für eine Frau allein.«
»Ich denke, ich komme im Notfall auch allein zurecht«, erwiderte Alice, der solche Versuche des Trostes zuwider waren. Sie musste aufgebracht geklungen haben, denn Rosarios Augenlider zuckten ein wenig. Selbstbeherrschte Menschen hassten Unbeherrschtheit bei anderen.
»Nun, wie Sie meinen. Aber was ich Ihnen eigentlich sagen wollte …« Rosario verstummte für einen Moment und ließ ihren Blick über die Pfirsichbäume schweifen. »Sie befinden sich hier in einem Land, das Ihnen völlig fremd ist. Ich denke, es wird nicht einfach für Sie sein, unsere Sitten zu verstehen. Aber respektieren Sie bitte, dass hierzulande nicht alles so ist, wie Sie es vielleicht aus Ihrer Heimat kennen. Einmischung von Fremden ist … wie soll ich sagen … meist unangebracht und könnte Sie in unnötige Schwierigkeiten bringen.«
Alice begann leicht zu frösteln und legte ihre Hände um die wärmende Tasse Schokolade. Sie glaubte, aus diesen Worten eine unausgesprochene Drohung heraushören zu können.
»Sie meinen, ich soll nicht dieselben Fehler machen wie mein Bruder«, sagte sie spontan. Rosario zuckte leicht zusammen, und Alice verfluchte wieder einmal ihre Neigung zu taktloser Direktheit, mit der sie Menschen unnötig verschreckte. Eine vage Ahnung war kein ausreichender Grund für einen derartigen Angriff.
Rosario seufzte leise. Ein unglücklicher Zug legte sich um ihren Mund, und sie hielt den Blick gesenkt. Es fiel ihr offenbar nicht leicht, Menschen in die Augen zu sehen. Alice erahnte Gefühle hinter der makellosen Fassade, jener Mauer, die eine tief verletzte, verstörte Seele um sich aufbaute.
»Ich mochte Ihren Bruder, Fräulein Wegener«, sagte Rosario leise. »Glauben Sie mir bitte. Er war ein besonderer Mensch, jemand, der aufrichtig an das Gute in anderen glaubt. Aber leider ist diese Welt nicht der richtige Ort für solche Menschen.«
Alice holte Luft, denn sie wollte Genaueres hören, doch Rosario stand auf.
»Die Männer warten auf uns. Wir wollen doch nicht, dass sie uns alles wegessen, oder?«
Ihr Lachen klang falsch, und Alice blieb nichts anderes übrig, als ihr in den Salon zu folgen.
Nun gab es Kaffee, Brötchen und Marmelade wie in Deutschland, eine Sitte, die wohl Hans Bohremann aus der Heimat eingeführt hatte. Dr. Scarsdale und Juan Ramirez sahen beide sehr ausgeschlafen, frisch und sauber aus, als hätten Rosarios allgegenwärtige Dienstboten ihnen rechtzeitig frische Hemden gebracht. Alice ging im Geiste ihren Vorrat an für die Hazienda akzeptabler Kleidung durch und stellte fest, dass sie dringend waschen lassen müsste, um neben der makellos eleganten Hausherrin keinen hoffnungslos ungepflegten
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