Der Duft des Regenwalds

Eindruck zu machen. Sie ahnte, dass Rosario Bohremann Männern gegenüber zu mehr Großzügigkeit bereit war, während sie eine junge, alleinstehende Frau eher mit Skepsis betrachtete wie einen Gegenstand, der noch nicht seinen angestammten Platz in dieser Welt gefunden hatte und daher störte. Dennoch würde sie ihre Gastgeberin demnächst um Hilfe bitten müssen. Ihr wurde bewusst, dass es unklug gewesen war, sich bereits in Veracruz nichts weiter als hübsche, bunte Indio-Kleidung zu besorgen, doch wie hätte sie ahnen können, dass sie am Ende ihrer Reise ein Märchenpalast erwartete, in dem es ähnlich vornehm zuging wie in ihrem Elternhaus?
    »Ich werde in den nächsten Tagen einen Ausflug auf die Plantage machen. Die Erntezeit beginnt erst im November, aber ich muss mich überzeugen, dass alles gut vorbereitet ist«, sagte Hans Bohremann, und da er deutsch gesprochen hatte, galt die Botschaft wohl Rosario. Sie nickte, übersetzte die Nachricht kurz für ihren Bruder und wandte sich dann an Dr. Scarsdale.
    »Wann beginnen Sie wieder mit Ihren Grabungsarbeiten? Die Regenzeit ist dieses Jahr nicht so schlimm, und Sie sollten sich rechtzeitig gute Arbeiter besorgen, bevor alle jungen, kräftigen Männer auf den Kaffeeplantagen verschwinden.«
    Alice stellte anerkennend fest, dass Rosario Bohremann fast ebenso gut Englisch sprach wie Deutsch und tatsächlich sehr viel Sinn fürs Praktische besaß. Vermutlich neigte sie auch dazu, andere Menschen gern herumzukommandieren, da sie davon ausging, fast immer recht zu haben.
    Dr. Scarsdale rückte seine Brille zurecht und kaute bedächtig an einem Brötchen. Von so viel Tatendrang fühlte er sich offensichtlich überfahren.
    »Ich brauche noch ein oder zwei Wochen, um mich vorzubereiten. Zudem ist eine Beisetzung von Patrick in Mexiko geplant, an der ich natürlich teilnehmen möchte«, erwiderte er. Rosarios Augen weiteten sich, und sie warf ihrem Mann einen ratlosen Blick zu. Hans Bohremann bestätigte die Aussage durch ein Nicken.
    »Fräulein Wegener möchte ihren Bruder hier in unserem Land beisetzen lassen. Wir dachten an San Cristóbal de las Casas, dort gibt es sehr schöne Kirchen.«
    Alice hatte ihre erste Tasse Kaffee geleert, und nach dem Verzehr von zwei Marmeladebroten machte sich ein angenehmes Sättigungsgefühl in ihrem Magen breit. Nun spürte sie den Blick der Hausherrin auf sich ruhen, was sie ein wenig nervös machte.
    »Wir werden Ihnen selbstverständlich dabei helfen, eine schöne Zeremonie zu arrangieren«, versicherte Rosario. Alice ahnte, dass wer auch immer etwas gemeinsam mit Rosario tat, sich entweder ihren Weisungen fügen oder ständig mit ihr streiten musste. Zwar hatte sie bereits Dr. Scarsdale, Juan Ramirez und auch Hans Bohremann die Stirn geboten, doch seltsamerweise hatte sie Angst vor Auseinandersetzungen mit dieser Frau. Vielleicht wäre es tatsächlich einfacher, alles ihr zu überlassen, denn sie kannte dieses Land und schien, nach dem perfekten Zustand dieses riesigen Heims zu urteilen, ein wahres Organisationstalent. Alice warf ratlos einen Blick in die Runde. Alle hatten hier Zukunftspläne, außer vielleicht Juan Ramirez, der hauptsächlich gut aussah und seiner Schwester vermutlich gern Gesellschaft leistete. Sie selbst würde zweifellos geduldet werden, bis Patrick beerdigt war, aber dann hätte die Gastfreundschaft der Bohremanns sicher auch irgendwann ihre Grenzen erreicht. Es war nötig, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
    »Könnte ich bitte etwas Wichtiges erfahren?«, fragte sie ohne Vorwarnung auf Spanisch und wurde sofort zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. »Ich würde gern wissen, wo genau mein Bruder … wo er getötet wurde. Bisher hat es mir niemand gesagt, aber ich habe auch nicht danach gefragt, da ich viel zu verwirrt war.«
    Rosario warf ihrem Bruder einen fragenden Blick zu. Er schüttelte leicht den Kopf und vermied es, Alice anzusehen. Insgesamt beachtete er sie so gut wie gar nicht, seit er sich im Haus seiner Schwester befand. Dr. Scarsdale sah kurz zu Hans Bohremann, dann sagte er:
    »Wir hatten die Forschungen während der Regenzeit unterbrochen und befanden uns hier, um unsere bisherigen Funde auszuwerten und Zeichnungen zu sortieren. Patrick machte einen Ausflug zu der Plantage an der Küste, wo Herr Bohremann sich einige Wochen aufhielt. Es geschah auf dem Weg dorthin, in den Bergen, kurz bevor der Abstieg begann.«
    Alice stellte mit Erleichterung fest, dass sie sich diese Neuigkeiten