Der Duft des Regenwalds
Juan Ramirez ihr anbot.
»Ich habe das Tagebuch meines Bruders gefunden.«
Sie hatte den Eindruck, dass er zusammenzuckte, bevor er wieder gelassen Rauch in die frische Spätsommerluft blies.
»Erstaunlich. Ich wusste nicht, dass er eines schrieb.«
»Mein Bruder behielt viele Dinge für sich«, erwiderte Alice. »Aber ich glaube, Sie kannten ihn besser, als Sie mir bisher erzählt haben.«
Juan Ramirez zog eine Augenbraue hoch. Sie kannte diese demonstrative Lässigkeit von Harry und fand sie angesichts der Umstände ärgerlich.
»Sie hätten mir mehr über sein Leben hier erzählen können«, fuhr sie fort. »In seinem Tagebuch bezeichnet er sie als einen seiner Freunde, mit denen er abends oft trank und redete.«
Juan Ramirez zuckte mit den Schultern.
»Das tun Männer eben gern zusammen. Ja, ich mochte Ihren Bruder. Er war ein umgänglicher Mensch und sehr gebildet. Er konnte stundenlang über die Geschichte meiner Heimat erzählen, ohne dabei so altklug zu klingen wie el doctor. Als er sich auf dieser Hazienda aufhielt, habe ich viel Zeit mit ihm verbracht. Dass er einen Freund in mir sah, wusste ich nicht, aber ich fühle mich geehrt.«
Er lächelte gefällig. Alice zog an ihrem Zigarillo und scharrte mit den Füßen im Kies.
»Hat er Ihnen etwas über seine Beziehung zu diesem Mädchen erzählt?«
Sie hielt die Zeichnung hoch. Juan Ramirez warf nur einen kurzen Blick darauf. Seine Augenlider zuckten, wie es ihr auch an Rosario aufgefallen war, als sie nervös wurde.
»Das ist eine gewöhnliche India. Ich habe schon Tausende von ihrer Art gesehen, nur nicht mit einer solchen Kette um den Hals.«
»Für meinen Bruder war sie keine gewöhnliche India. Er muss von ihr gesprochen haben.«
Juan Ramirez schenkte ihr einen nachsichtigen Blick.
»Frauen plaudern untereinander ständig über Herzensangelegenheiten, ich weiß. Aber Männer sind da anders. Patrick war keiner, der mit Eroberungen prahlte, er schien überhaupt sehr verschlossen in diesen Dingen zu sein. Ich hörte natürlich Gerüchte, dass er eine indianische Geliebte hatte. Aber das haben viele Männer hierzulande. Es schien mir nicht wichtig.«
Alice unterdrückte einen Seufzer. Die dandyhafte Fassade dieses Mannes war aalglatt.
»Aber warum erzählte mir niemand, dass dieser Andrés Uk’um einer der Arbeiter war, die man nach Palenque schickte, um bei den Ausgrabungen zu helfen? Warum sollte ein studierter Ingenieur als einfache Arbeitskraft eingesetzt werden?«
»Eine Strafmaßnahme«, erwiderte Juan Ramirez. »Andrés kehrte zu seiner Familie zurück, die für einen ebenfalls deutschstämmigen Plantagenbesitzer arbeitet. Zunächst setzte man Hoffnungen in ihn, dass er sein Wissen in den Dienst der Patrons stellen würde. Aber er benahm sich nicht den Erwartungen entsprechend, wie Sie ja bereits gehört haben. Daher schickte man ihn in den Dschungel, um alte Steine auszubuddeln.«
Alice sortierte die neuen Informationen in ihrem Kopf. Patrick war die Intelligenz des jungen Indianers aufgefallen, und er hatte immer wieder versucht, Gespräche mit ihm zu beginnen, war aber zunächst nur auf misstrauisches Schweigen gestoßen. Erst als er sich bereit zeigte, Chinin an fieberkranke Arbeiter zu verteilen, wurde Andrés ihm gegenüber zugänglicher. Patrick betraute ihn daraufhin mit der Aufsicht über die Arbeiter, wogegen die anderen Aufseher, allesamt Ladinos, zunächst protestiert hatten. In seinem Tagebuch beschrieb Patrick einige Streitgespräche mit Dr. Scarsdale, der ihm vorgeworfen hatte, für unnötigen Aufruhr zu sorgen. Auch das Chinin war ohne die Einwilligung des amerikanischen Gelehrten verteilt worden, der es für zu kostbar gehalten hatte, um es einfach zu verschenken.
»Patrick mochte Andrés sehr und förderte ihn«, fasste Alice ihre Eindrücke zusammen. »Er empfand fast Stolz darüber, diesen Indianer als Freund gewonnen zu haben. Welchen Grund hätte Andrés also gehabt, ihn zu töten?«
Juan Ramirez seufzte.
»Sie sind überaus hartnäckig, Mademoiselle. Ihr Bruder war ein sehr idealistischer Mensch, der sein Herz allzu leicht öffnete. Er traute Andrés mehr, als dieser es verdiente, würde ich sagen.«
»Aber laut Patricks Tagebuch waren auch Sie Andrés’ Freund!«
Nun scharrte Juan Ramirez mit seinen Füßen im Kies.
»Es ist ungewöhnlich, einen gebildeten Indio zu treffen, und daher war ich neugierig auf Andrés. Wir sind hierzulande nicht alle so voreingenommen, wie Sie vielleicht meinen. Ich betrank
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