Der Duft des Regenwalds
Wegener«, sagte Dr. Scarsdale ruhig, »die Indios haben schlichte Gemüter und sind ohne jede Bildung. Sie denken wie Kinder, denn ihnen fehlt jedes Abstraktionsvermögen. Es gibt für sie nur klare Kategorien von Gut und Böse. Daher sind sie leicht gegen vermeintliche Feinde aufzuhetzen, da sie die Hintergründe nicht begreifen. Ein Mann wie Andrés Uk’um, der zu ihnen gehört, aber gleichzeitig über einen brillanten Verstand verfügt, konnte sie auf hervorragende Weise lenken und zu seinen Werkzeugen machen.«
Alice senkte den Kopf, denn diese Worte klangen durchaus überzeugend.
»Dieser Mann hing der Politik des früheren Präsidenten Benito Juarez an, der der indianischen Bevölkerung mehr Rechte verschaffen wollte«, fuhr der Professor fort. »Ich weiß, das klingt edel und großmütig, doch diese Leute waren bereits während dessen Regierungszeit nicht in der Lage, diese Rechte wahrzunehmen, sodass sie ihnen nicht viel nützten und nur zu unnötigem Chaos führten. Porfirio Díaz, der gegenwärtige Präsident, versteht es, Eigentum in jene Hände zu geben, die damit umzugehen verstehen. Indem Chiapas, das bisher kaum erschlossene Hinterland Mexikos, Leuten wie Hans Bohremann überlassen wurde, kann es erstmals sinnvoll bewirtschaftet werden. Auch meine Bemühungen der Erforschung indianischer Kulturen werden unterstützt, während uralte Denkmäler von unschätzbarem Wert vorher zerschlagen wurden, um die Steine für neue Bauten zu nutzen. Sie müssen einsehen, dass sich hier alles zum Besseren wandelt. Andrés Uk’um hetzte seine Landsleute gegen jenen Mann auf, der Wohlstand und Moderne in ihre rückständige Welt zu bringen versucht.«
Dr. Scarsdale wischte sich nach der langen Erklärung mit einer Serviette den Mund ab. Alice saß schweigend da. In ihrem Magen rumorte der Zorn, denn sie kannte diese Art der wortreichen Vorträge von ihrem Vater. Irgendwo gab es sicher eine Schwachstelle, wo sie ansetzen könnte, um dieses aus Logik und Wissen konstruierte Gebilde auseinanderzuhebeln, doch dazu fehlten ihr die nötigen politischen Kenntnisse. Harry hätte vermutlich zu antworten gewusst. Aber letztendlich war Harry auch nur ein frecher Schwätzer gewesen. Sie hatte hier andere Dinge zu erledigen.
»Sie mögen recht haben, Dr. Scarsdale«, lenkte Alice ein, »mir geht es in erster Linie um meinen Bruder. Wenn Sie alle gestatten, dann würde ich mich jetzt gern in mein … in sein ehemaliges Zimmer zurückziehen und mich ein wenig umsehen. Ich entscheide danach, ob ich noch irgendeinen Ort hier sehen möchte. Ich werde Ihnen sicher nicht länger zur Last fallen als notwendig.«
Mit einem bemüht freundlichen Lächeln stand sie auf.
»Sie fallen uns nicht zur Last«, versicherte Hans Bohremann. Es klang aufrichtig. Anders als seine Frau verbarg der Kaffeebaron sein wahres Wesen nicht hinter einer Maske der Vorsicht und des Misstrauens. »Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen.«
Rosario schwieg und starrte in ihre Kaffeetasse. Juan Ramirez sah Alice kurz an und lächelte, doch dann senkte er den Blick, als fühle er sich bei einem Fauxpas ertappt.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich weiß Ihre Gastfreundschaft zu schätzen«, versicherte Alice dem Hausherrn. »Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Mir ist nicht ganz wohl, und ich möchte nach meinem Hund sehen.«
Alice war sich bewusst, dass ihr Rückzug aus dem Salon einer Flucht glich. Ihr erster Auftritt in diesem Haus war alles andere als eindrucksvoll gewesen, doch es gab wichtigere Dinge, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie erreichte den Patio und ging die Treppe hinauf ins erste Stockwerk, erleichtert, wenigstens ihr Zimmer problemlos wiederfinden zu können. Mariana begrüßte sie mit einem freudigen Bellen und sprang an ihr hoch. Alice schloss den Hund in die Arme und bemerkte eine Futterschüssel dicht neben der Eingangstür, in der noch ein paar Fleischstücke lagen. War es Rosario gewesen, die hier wirklich an alles dachte, während Alice sich einen Hund anschaffte, aber völlig vergaß, dass er auch gefüttert werden musste? Alice verjagte diese Gedanken. Der Indio-Junge hatte sicher nicht geahnt, welch großzügiges Geschenk er ihr machte, indem er sie nicht völlig allein in diesem Land zurückließ.
Sie setzte sich auf das Bett und atmete tief durch. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich ohne jede Hilfe durch einen Dschungel kämpfen. Aber da sie diesen Weg nun einmal eingeschlagen hatte, würde sie
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