Der Duft des Regenwalds
ihn auch zu Ende gehen.
Sie sah sich in dem Zimmer um, in dem Patrick die letzten Wochen, wahrscheinlich sogar Monate seines Lebens verbracht hatte. Irgendwo mussten Aufzeichnungen über seine Tätigkeit als Archäologe liegen, die ihr vielleicht auch Einblick in seine Gedanken geben konnten. Hatte ihr Bruder sich ebenso unwohl in diesem Haus gefühlt wie sie selbst, verfolgt von dem Bewusstsein, auf Schritt und Tritt anzuecken? Sie bezweifelte es, denn Patrick war ruhiger und umgänglicher gewesen als sie und hatte lieber nachgegeben, als unnötig Streit zu provozieren. Doch wie war es möglich gewesen, dass ihr fügsamer, verträumter Bruder in den Sog eines Revolutionärs geraten war? Sie schloss die Augen und versuchte, sich jenen Indio vorzustellen, der ihr die ganze Zeit beschrieben wurde: ein kluger Mann mit einem Ingenieursstudium, was für Alice recht langweilig klang. Ein charismatischer, gefährlicher, manipulativer Volksverhetzer und schließlich ein blutrünstiger Mörder. Erinnerungen an diverse Männergesichter, die sie in Mexiko und auch schon in Deutschland gesehen hatte, schwirrten wie Stücke eines Puzzles durch ihren Kopf, doch sosehr sie es auch versuchte, sie konnte sich kein Bild von Andrés Uk’um machen.
Schließlich stand sie auf und sah sich noch mal alle Bilder in diesem Zimmer an, die sicher nicht Patricks Wahl gewesen waren, denn er hatte sich nie um die Einrichtung von Räumen gekümmert. Dann atmete sie tief durch und öffnete entschlossen die Truhe.
Zunächst holte sie zahlreiche Zeichnungen von altindianischen Gebäuden, Statuen und Reliefs heraus. Patrick hatte über Talent verfügt, auch wenn er keinerlei künstlerische Ambitionen gehabt hatte. Ein paar kleine Figuren waren sorgfältig in Papier eingewickelt und aufbewahrt worden. Sie überlegte, ob sie diese Funde nicht Dr. Scarsdale übergeben sollte, verschob diese Entscheidung aber auf später. Nun folgte eine Schicht aus schmutzigen, verschwitzten Hemden. Die Truhe musste die ganze Zeit ungeöffnet gewesen sein, denn ansonsten hätte Rosario diese Kleidungsstücke sicher schon längst waschen und bügeln lassen. Vielleicht hatte man beabsichtigt, sie gemeinsam mit dem Leichnam nach Europa zu schicken. Jedenfalls konnte den Bohremanns Diskretion nicht abgesprochen werden. Unter den Hemden stieß Alice auf Bücher, hauptsächlich Reiseberichte von Forschern, die Chiapas bereits besucht hatten: Graf von Waldeck, ein Abenteurer von unklarer Herkunft, John Lloyd Stephens, Alfred P. Maudslay und ein paar weitere Namen, die sie nicht kannte. Sie begann, deren Werke neben der Truhe zu stapeln. Ein paar Briefe fielen heraus, und sie erkannte ihre eigene Handschrift. Wieder stieß ein unsichtbares Messer mit unerwarteter Heftigkeit in ihre Brust, denn sie erinnerte sich, wie sie in ihrem Zimmer in Berlin gesessen und die Zeilen an ihren Bruder verfasst hatte, um ihn über die neuen Entwicklungen in ihrem Leben in Kenntnis zu setzen. Den letzten Brief, in dem sie ihm stolz von der geplanten Ausstellung berichtete, hatte er noch erhalten, doch sie würde ihm nie mehr von ihrem Erfolg erzählen können und der Freude, die sie darüber empfand. Noch auf dem Schiff hatte sie sich ausgemalt, wie sie nach dem ersten Wiedersehen gemeinsam mit mindestens einer Flasche Champagner feiern würden! Nun gab es nichts als die Leere, die Patrick hinterlassen hatte.
Sie setzte sich neben der Truhe auf den Boden. Mariana trippelte über die hölzernen Fliesen. Es war erstaunlich, wie schnell der Hund merkte, wann sie Trost brauchte. Alice vergrub ihr Gesicht in dem braunen Strubbelfell, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sich darin vielleicht Flöhe verbargen. Eine Weile saß sie völlig still da, zu ausgelaugt, um Tränen zu vergießen, und genoss die Nähe des Hundes in ihren Armen. Dann machte sie sich daran, den Rest der Truhe auszuräumen. Sie hatte es schon fast geschafft, da glitten ihre Finger über feinen, glatten Stoff. Alice’ Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie ein schmales, in hellblaue Seide gebundenes Buch herausholte, das sie ihrem Bruder kurz vor seiner Abreise geschenkt hatte. Mit zitternden Fingern schlug sie einzelne Seiten auf und erkannte die kleine, präzise Schrift ihres Bruders. Patrick Wegener, persönliche Aufzeichnungen – das war sein erster Eintrag auf dem Deckblatt. Danach folgten zahllose eng beschriebene Zeilen. Alice musste sich an die Kiste lehnen und tief durchatmen, denn nun
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