Der Duft des Regenwalds
hatte sie tatsächlich so etwas wie den Geist ihres verstorbenen Bruders aus der Truhe befreit.
»Jetzt können wir endlich mehr darüber erfahren, was hier wirklich vorging«, sagte sie zu Mariana, die ihr mit freudig wedelndem Schwanz zum Bett folgte, um sich dort an ihre Seite zu schmiegen. Alice überflog die ersten Seiten, auf denen Patrick seine eigene Überfahrt nach Veracruz beschrieb. Es folgte die erste Begegnung mit Dr. Scarsdale, von dessen Fachkenntnis und Arbeitseifer er sehr beeindruckt gewesen war. Alice blätterte ungeduldig weiter. Später würde sie sich die Zeit nehmen, alle ersten Eindrücke ihres Bruders von diesem Land genau zu lesen und mit den eigenen zu vergleichen, doch nun drängte die innere Unruhe sie, nach relevanten Informationen zu suchen. Sie überflog die ausführliche Beschreibung der ersten Arbeiten in Palenque. Die Lektüre versprach länger zu werden als erwartet. Sie legte das Buch kurz zur Seite, um sich an die Wand zu lehnen, und als sie es wieder nahm und nach der Stelle suchte, wo sie zu lesen aufgehört hatte, glitt plötzlich ein loses Blatt heraus.
Alice griff danach und erstarrte. Das präzise umrissene und bis ins letzte Detail schraffierte Gesicht eines jungen Mädchens sah ihr entgegen. Dunkle Augen blickten aus einem eindeutig indianischen Gesicht mit breiten Wangen und dichten Brauen, die über der Nase zusammenwuchsen. Das Mädchen schien sehr jung, schlicht und von einer natürlichen Unschuld zu sein, die selbst Alice berührte, obwohl ihr die Mühen besorgter Väter, ihre Töchter behütet und ahnungslos aufwachsen zu lassen, inzwischen von Grund auf verhasst waren. Sie zweifelte keinen Moment, dass es sich um Patricks Geliebte handelte, denn sie spürte in jedem einzelnen, sorgfältigen Strich dieser Zeichnung die Liebe des Schöpfers für sein Modell. Um den Hals des Mädchens hing eine Kette aus großen Steinen, die Patrick bunt ausgemalt hatte, obwohl der Rest der Zeichnung nur aus hellen und dunklen Schraffuren bestand. Den Steinen fehlte der sorgsame Schliff jenes Schmucks, den Alice aus ihrer Heimat kannte. Dennoch schienen sie wertvoller als all der bunte auf ihrer Reise erworbene Tand, da es sich nicht um Holz handeln konnte. Patrick hatte in aller Klarheit die unebenen, mitunter rauen Flächen gezeichnet. Es konnten durchaus Edelsteine sein, die, in ihrer rohen Form zu einer Kette aufgereiht, sehr archaisch wirkten. Sie verliehen diesem eher unscheinbaren Mädchen einen Hauch von der Furcht einflößenden Macht einer heidnischen Göttin.
»Wie heißt du?«, flüsterte Alice. »Und wo versteckst du dich jetzt, falls du noch lebst?« Ihr wurde bewusst, dass sie auf Spanisch gesprochen hatte, als erwarte sie von einem gemalten Gesicht auf einem Blatt Papier tatsächlich eine Antwort. Patrick hatte das Mädchen so lebendig gezeichnet, dass es Alice nicht überrascht hätte, wenn die schraffierten Lippen sich plötzlich bewegt hätten.
»Ich wünschte, unser kleiner Freund von der Reise durchs Gebirge wäre noch hier«, sagte sie zu Mariana, die sie vertrauensvoll ansah. »Er machte einen schlauen Eindruck. Vielleicht hätte er sich für mich umhören können, ob jemand hier dieses Mädchen gesehen hat.«
Dann beschloss sie, dass sich mit etwas Geduld vielleicht ein anderer Helfer finden ließ, und las weiter.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Alice das Zimmer verließ. Mariana rannte die Stufen zum Patio hinab, um sich wieder auf einen Eimer Wasser zu stürzen. Alice folgte ihr fast ebenso schnell, denn sie hatte entdeckt, wonach sie suchte. Juan Ramirez saß rauchend unter den Pfirsichbäumen, nun wieder in einem blütenweißen Batisthemd. Ebenso wie seine Schwester verstand er sich sehr gut darauf, anscheinend ohne jede Anstrengung anspruchsvollen Künstleraugen einen Anreiz zu bieten, doch im Augenblick hatte Alice andere Dinge im Kopf als die Sehnsucht nach ihrem Skizzenblock.
»Ich muss kurz mit Ihnen reden«, begann sie ohne jeden Versuch, auf höfliche, beiläufige Weise eine Konversation zu beginnen. Juan Ramirez blickte auf. Freudige Überraschung schien in seinen Augen aufzublitzen, doch dann legte sich ein Schatten der Zurückhaltung darüber. Sie wurde aus diesem Mann nicht schlau.
»Selbstverständlich, Mademoiselle.« Er wies auf einen Stuhl an seiner Seite. Alice fiel ein, dass sie dort bereits während ihres Gesprächs mit Rosario Bohremann gesessen hatte. Nur gab es diesmal keine Schokolade, lediglich ein Zigarillo, das
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