Der Duft des Regenwalds
Sohn ein Mörder ist?«
Alfons räusperte sich, aber er begann zu übersetzen. Alice konnte nicht wissen, ob er wirklich alles korrekt wiedergab, aber plötzlich kam ein wenig Leben in das runzelige Gesicht des Kaziken. Er musterte sie zum ersten Mal eindringlich, als habe sie sich von einem Augenblick zum nächsten in eine Kreatur verwandelt, die ein wenig Neugier verdiente. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Im Hintergrund hörte Alice Gemurmel. Eine Gestalt schlüpfte aus der Hütte hinter dem Kaziken. Alice erblickte eine Frau mittleren Alters, deren dunkle Augen wie eine hartnäckige Berührung auf sie gerichtet waren.
Der Kazike sprach länger, lauter und entschlossener als zuvor. Die Frau verzog sich wortlos wieder in die Hütte.
»Er sagt, Andrés sei nicht mehr sein Sohn«, übersetzte Alfons Kernhagen. »Die Ladinos haben ihn mit ihrer Schule verdorben. Er verließ sein Volk, um in Mexiko-Stadt zu studieren, und jetzt ist er ein Fremder geworden. Er weiß nicht, was dieser Fremde getan hat. Es interessiert ihn auch nicht.«
Die Worte schienen so vernichtend, dass Alice zusammenzuckte.
»Das war deutlich. Ich glaube, wir können jetzt gehen«, murmelte Isolde, und Alice sah keine Möglichkeit, ihr zu widersprechen, denn auf dem Gesicht des alten Indianers lag eine eiserne, feindselige Entschlossenheit. Bald schon ritten sie wieder unter der glühenden Sonne zurück. Alice kämpfte verzweifelt gegen ein Gefühl völliger Niedergeschlagenheit an, denn sie hatte sich weitaus mehr von dem Gespräch mit Andrés’ Familie erhofft. Das harte braune Gesicht des Kaziken tauchte immer wieder auf, wenn sie ihren Blick über die Landschaft schweifen ließ. Es war bereits in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Dein Sohn tat wohl nicht das, was du von ihm wolltest, und jetzt kennst du ihn angeblich nicht mehr«, murmelte sie so leise, dass es niemand hörte. »Du bist ein sturer, alter Bock, genau wie mein Vater.«
Es überraschte sie, dass sie vor mühsam unterdrückter Wut zitterte.
Alice verbrachte die nächsten vier Tage auf der Terrasse des Herrenhauses, denn es gab kaum etwas für sie zu tun. Isolde Kernhagen servierte ohne Murren kalte Limonade, doch selbst wenn sie in Alice keine Feindin mehr sah, war dies für sie doch kein Grund, längere Gespräche mit einer Frau zu führen, die nicht in ihre Welt passte. In Ermangelung einer anderen Ablenkung ließ Alice ihren Blick über die weite Landschaft schweifen, die atemberaubend war. Im Hintergrund ragten die Berge der Sierre Madre in den wolkenverhangenen Himmel, als wollten sie einen Weg in die Weite des Universums weisen. Auf der entgegengesetzten Seite breiteten sich die halb hohen, glänzenden grünen Kaffeebäume aus, gezähmte, sorgsam arrangierte Gewächse, die von ein paar höheren Bäumen mit weit ausladenden Ästen überschattet wurden. Schmetterlinge tanzten durch die warme Luft, und an dem fast wolkenlosen Himmel zog ein Schwarm von Vögeln entlang, die Spatzen glichen, aber türkisfarbenes Gefieder aufwiesen. Hinter der Plantage erstreckte sich flaches Land mit Palmen und Kakteen, das bis zum Pazifischen Ozean reichen musste. Wenn Alice aufmerksam schaute, meinte sie manchmal in der Ferne einen Streifen des endlosen Blau zu entdecken. Da sie ihr bisheriges Leben in Städten verbracht hatte, wurde ihr manchmal schwindelig von all der Weite. Doch so beeindruckend die Ausmaße, Formen und Farben dieser fremden Welt auch sein mochten, Alice verspürte keine Lust, sie zu malen. Ihre bisherigen Versuche, die Hintergründe von Patricks Tod zu klären, waren an einer Mauer allgemeiner Verschwiegenheit abgeprallt. Sie sehnte sich nach ihrer kleinen Wohnung in Berlin, hätte gern mit den anderen Mädchen im Café Josty geplaudert, und manchmal vermisste sie sogar Harrys sarkastische Kommentare. Vermutlich würde er ihre Erfahrungen in Mexiko mit ein paar knappen Sätzen in eine schlichte Episode verwandeln, deren Absurdität durchaus amüsant war. Sie sehnte sich danach, gemeinsam mit ihm darüber zu lachen. Sie las nicht mehr in dem Tagebuch, versuchte, so wenig wie möglich nachzudenken, und wartete. Sobald Patrick beerdigt war, würde sie die Heimreise antreten. Es gab niemanden, den sie hier vermissen würde, außer vielleicht Mariana.
Schließlich, nachdem sie drei Tage lang Berge und Kaffeebäume betrachtet hatte, teilte Hans Bohremann ihr die bevorstehende Rückkehr zur Hazienda mit. Alice hatte ihre Sachen schnell gepackt und wartete ungeduldig vor
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