Der Duft des Regenwalds
Alice, denn sie sah keine andere Möglichkeit als eine offene Aussprache. Isolde schien für einen kurzen Moment verunsichert, dann warf sie ihr einen giftigen Blick zu.
»Rosario Bohremann ist die klügste und beste Dame, für die ich jemals gearbeitet habe«, verkündete sie laut und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Alice zweifelte nicht, dass diese Frau alle mexikanischen Männer auf der Plantage um einen ganzen Kopf überragte.
»Ja, und? Ich habe doch nicht gesagt, dass sie dumm oder schlecht wäre«, erwiderte Alice verwirrt.
Isolde Kernhagen verzog keine Miene.
»Ich weiß, in diesem Land ist es normal, dass Männer mit ihren Liebschaften prahlen. Aber Herr Bohremann ist Deutscher. Bisher hat er sich auch immer tadellos verhalten.«
Nun wurde Alice von einem vorwurfsvollen Blick durchbohrt, als sei sie persönlich verantwortlich dafür, dass der Patron jetzt nicht mehr das gewünschte Verhalten an den Tag legte. Sie fühlte, wie sie von Isoldes prüfenden Augen abgeschätzt wurde. Hübsch und nutzlos, so lautete das Urteil, denn Isolde Kernhagen schien kräftig genug, um im Dschungel Bäume zu fällen, was Alice kaum vermocht hätte. Allmählich begann Alice zu begreifen und legte eine Hand auf den Mund, um ihr Kichern zu unterdrücken. Sie hatte keinen Augenblick lang gedacht, für eine ernsthafte Konkurrentin der bildschönen Rosario gehalten zu werden.
»Ich bin die Schwester von Patrick Wegener, der in diesem Land ermordet wurde«, setzte sie zu einer Erklärung an. »Ich will die Hintergründe herausfinden. Ich kam nur hierher, weil ich mit der Familie von Andrés Uk’um sprechen will, der als Mörder meines Bruders gilt und sich hier eine Weile aufgehalten hat. Gegenüber Ihrem Patron wage ich den Wunsch nicht zu äußern, denn es würde ihn nur verärgern, dass ich an seinem Urteil zweifele. Wenn Sie mir helfen, diese Leute zu finden, verschwinde ich so schnell, wie ich gekommen bin.«
Isolde Kernhagen musterte sie mit unverhohlenem Misstrauen, doch die Feindseligkeit in ihrem Blick verwandelte sich in staunende Neugier.
»Ich bespreche das mit meinem Mann«, murmelte sie, als sie sich rasch entfernte.
Nach dem Abendessen zog sich Alice in ihr winziges Zimmer zurück und versuchte vergeblich einzuschlafen. Sie vermisste Mariana, die sie auf der Hazienda zurückgelassen hatte, und auch ihren Skizzenblock. Seit ihrer Ankunft bei den Bohremanns hatte sie nicht mehr den Drang verspürt zu zeichnen, doch nun sehnte sie sich nach der klaren, entrückten Welt, in die sie beim Malen stets eintauchte. Aber Patricks Tod hatte sie ganz und gar in die Wirklichkeit zurückgezerrt. Wieder blätterte sie in dem Tagebuch, als sei es ein rätselhaftes Orakel, das es zu entschlüsseln galt. Patrick beschrieb, wie er ein indianisches Mädchen vor der Zudringlichkeit einiger Aufseher beschützte, und klagte, dass sie indianische Frauen als Freiwild betrachteten. Alice dachte, dass Frauen einfacher Herkunft überall auf der Welt so gesehen wurden und dass es Patricks idealistischem Weltbild entsprochen hatte, darüber empört zu sein. Wieder hatte es wegen seiner Einmischung Aufruhr gegeben, doch das Mädchen, das sich offenbar zur Grabungsstätte geschlichen hatte, um verwandten Arbeitern Essen zu bringen, kam am nächsten Abend unaufgefordert in Patricks Zelt. Er freute sich und suchte nach Möglichkeiten, ein Gespräch zu beginnen. Das Mädchen konnte aber kein Wort Spanisch. Sie versuchten, sich durch Gesten zu verständigen, und mit der Zeit entwickelte sich eine schlichte Art der Kommunikation. Das Mädchen hieß Ix Chel, was Alice beim ersten Überfliegen des Textes überlesen hatte. Das Gesicht auf der Zeichnung hatte einen Namen, doch es blieb ihr trotzdem fremd. Patrick schwärmte ausführlich von der Natürlichkeit und Unverdorbenheit indianischer Frauen. Alice ließ das Tagebuch seufzend sinken. Ihr Bruder hatte sich in seinen Traum von der schlichten, naturverbundenen Welt der Indianer verliebt, ohne diese Frau wirklich zu kennen, denn wie konnte man jemanden verstehen, mit dem man nicht sprechen konnte?
Wieder einmal holte sie die Zeichnung hervor und starrte in ein Gesicht, dessen Züge ihr mittlerweile so vertraut waren, dass sie es unter Tausenden von Indias wiedererkannt hätte.
»Wer bist du, Ix Chel?«, flüsterte sie. »Die reine Unschuld, die mein Bruder in dir sah? Oder eine gerissene Betrügerin? Wolltest du Patricks Geld, oder warst du der Lockvogel in eine Falle, die dein Volk
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