Der Duft des Regenwalds
ihm stellte?«
Die Zeichnung antwortete nicht, und Alice wandte sich wieder dem Tagebuch zu. Es waren nur noch wenige Seiten übrig. Patrick träumte von einem Leben mit Ix Chel in einer schlichten Hütte und eigenem Land. Dabei hatte er genug Geld geerbt, um eine ganze Hazienda kaufen zu können! Sie schüttelte den Kopf und verstand plötzlich Dr. Scarsdale, der ihrem Bruder laut Tagebuch immer wieder mangelnden Realitätssinn vorgeworfen hatte. Ix Chel musste auf jeden Fall mutig gewesen sein, dachte Alice, denn brave Bauernmädchen schlichen sich für gewöhnlich nicht in die Zelte fremder Männer. Die unbekannte Indianerin wurde ihr etwas sympathischer, und sie gönnte ihrem Bruder glückliche Liebesnächte, die er allerdings unerwähnt ließ. Überhaupt begannen seine Einträge spärlich zu werden, als sei er mit anderen Dingen beschäftigt gewesen als dem abendlichen Schreiben beim Licht einer Öllampe. Ix Chel blieb lange unerwähnt. Als im Juni die Regenzeit begann, fuhr Patrick mit Dr. Scarsdale zu den Bohremanns, da es zu heiß für weitere Grabungen geworden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dr. Scarsdale Alice bereits den ersten Brief geschrieben, um sie nach Mexiko zu holen, damit sie ihrem Bruder gut zuredete. Patrick indessen beschrieb seine wachsende Freundschaft mit Juan Ramirez, den er für einen gutmütigen Lebemann hielt und in dem seines Erachtens mehr Talente steckten, als dieser selbst erkannte. Sie fragte sich, was dies für Talente sein mochten. Andrés’ Name tauchte wieder auf. Juan Ramirez hatte ihn gekannt, gemocht und mit ihm sympathisiert. Patrick wünschte sich, der Mexikaner hätte auch den Mut, dies gegenüber den Bohremanns offen zu äußern. Er hoffte, Hans Bohremann wieder mit Andrés versöhnen zu können, da er davon ausging, ein Missverständnis hätte die beiden auseinandergebracht. Plötzlich schrieb Patrick: »Meine Frau ist zu mir gekommen.« Es musste sich um Ix Chel handeln, auch wenn sie nicht beim Namen genannt wurde. Das war der letzte Eintrag, am 30. Mai. Ungefähr einen Monat später war sie selbst in Veracruz angekommen, um zu erfahren, dass Patrick ermordet worden war.
Sie schloss die Augen, und wieder einmal verspürte sie den Wunsch, weinen zu können. Vielleicht sollte sie Patrick beerdigen lassen und wieder nach Hause fahren, wo ihr eigenes Leben auf sie wartete. Auf diese Weise könnte sie diesem Albtraum entkommen, aber sie ahnte, dass unbeantwortete Fragen sie den Rest ihres Lebens verfolgen würden. Sie war es Patrick schuldig, die Umstände seines Todes aufzuklären.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Alice ließ das Tagebuch sinken und öffnete. Alfons Kernhagen stand vor ihr und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Isolde hat mich geschickt.«
Er grinste breit, und Alice bat ihn einzutreten. Sein Blick huschte durch das Zimmer, als wolle er sich versichern, dass Hans Bohremann hier nicht irgendwo verborgen war. Als er den Patron nicht entdecken konnte, entspannte er sich ein wenig.
»Sie wollen mit den Eltern von Andrés Uk’um sprechen.«
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Alice nickte.
»Sie haben ihn gekannt«, stellte sie fest.
»Ja, natürlich. Er hat hier gearbeitet, als der Herr Bernhard ihn nicht mehr wollte. Hans Bohremann ist nicht engstirnig, verstehen Sie. Er war froh über einen klugen indianischen Arbeiter. Doch leider redete Andrés zu viel, und die anderen Indianer verstanden es manchmal falsch, also, so sehe ich das. Er ist kein übler Kerl. Und die Maschinen lieben ihn. Er braucht sie nur anzusehen, und sie funktionieren wieder.«
Alice zwang sich zu lächeln, um keinen unfreundlichen Eindruck zu machen. Maschinen waren ihr ziemlich gleichgültig, und in dem vermeintlichen Mörder ihres Bruders einen netten Kerl zu sehen fiel ihr schwer. Alfons Kernhagen hielt ihn offenbar für unschuldig, sonst hätte er nicht so gesprochen. Aber sie beschloss, dieses Thema nicht weiter zu verfolgen.
»Sie können mich zu seinen Eltern bringen?«, fragte sie.
Er nickte.
»Ja. Morgen Nachmittag. Der Patron lässt einen Mechaniker von einer anderen Plantage kommen, wegen der Maschine. Ich werde eine Entschuldigung finden, für eine Weile zu verschwinden, denn wirklich helfen kann ich dabei nicht. Andrés’ Eltern wohnen nicht weit weg von hier in einem Dorf. Wir reiten hin und wieder zurück. Am besten ist es, wenn der Patron nichts erfährt. Ich will keinen Ärger, verstehen Sie.«
Alice nickte.
»Ich werde nichts sagen. Und
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