Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
Vom Netzwerk:
und mich nur unter das Laken legte.
    Ich hatte meine neue Mad in der Hand, konnte mich aber nicht richtig konzentrieren, weil ich an das Foto von Frank auf der Titelseite der heutigen Zeitung denken musste. Den ganzen Tag lang hatte keiner von uns vor den anderen die Zeitung aufgeschlagen, um den ganzen Artikel zu lesen. Aus der Schlagzeile konnte man entnehmen, dass Frank gesucht wurde und dass er jemanden getötet hatte, aber keine Einzelheiten. Komischerweise hätte ich es unhöflich gefunden, den Artikel in Franks Anwesenheit zu lesen.
    Ich hörte das Gemurmel ihrer Stimmen von unten und das laufende Wasser, als sie Geschirr spülten, aber die einzelnen Wörter konnte ich nicht verstehen. Hätte sie auch nicht verstanden, wenn ich den Ventilator nicht auf die höchste Stufe gestellt hätte. Später redeten sie weniger, aber
sie hörten Musik – eine Platte von Frank Sinatra, die meine Mutter sehr liebte. Gute Tanzmusik, wenn jemand wirklich tanzen konnte.
    Irgendwann war ich wohl eingenickt, denn ich wachte vom Geräusch ihrer Schritte auf der Treppe wieder auf. In der vorherigen Nacht hatte Frank unten auf der Couch geschlafen, aber diesmal hörte ich außer dem vertrauten Gang meiner Mutter noch andere, schwerere Schritte und das leise Raunen von Franks Stimme, die aus einer ganz anderen Welt zu stammen schien, einer tiefen dunklen stillen Welt, einer Höhle gleich oder einem Sumpf.
    Noch immer keine Wörter, nur ihre Stimmen und das Brummen des Ventilators und von draußen durchs Fenster das Zirpen der Grillen und ein Wagen auf der Straße, aber nicht vor unserem Haus. Jemand – vermutlich Mr. Jervis – schaute ein Baseballspiel im Garten,weil es dort kühler war. Ab und an hörte ich Jubel und wusste, dass den Red Sox irgendwas gelungen war.
    Jemand duschte, und das Wasser lief so lange – länger als ich jemals zum Duschen gebraucht hatte –, dass ich mich fragte, ob irgendwas nicht stimmte und ich lieber aufstehen und nachsehen sollte, ob ein Rohr gebrochen war, aber etwas hielt mich davon ab. Mondlicht fiel jetzt durchs Fenster. Die Schlafzimmertür knarrte, als sie geöffnet wurde. Hammondorgel vom Baseballspiel. Dann wieder die Stimmen. Flüsternd. Ich verstand nur einen Satz: Ich hab mich rasiert für dich.
    Mein Kopf lag an der dünnen Wand zum Nebenzimmer, an der Stelle, an der nebenan das Bett meiner Mutter stand.
Im Lauf der Jahre hatte ich immer mal wieder nachts ihre Stimme gehört – das Gemurmel, das ein Mensch im Traum von sich gibt. Ich war vertraut mit den Geräuschen aus ihrem Zimmer: dem Knarren der Bettfedern, dem Aufziehen und Ticken des Weckers, hatte diesen Lauten aber ebenso wenig Beachtung geschenkt wie dem Pochen meines eigenen Herzens. Ich hörte alles von nebenan: das Wispern, mit dem das Bett aufgedeckt wurde, das Klacken, wenn meine Mutter ihr Wasserglas auf den Nachttisch stellte, das Quietschen des Fensters, wenn sie es öffnete, um Luft hereinzulassen – wie jetzt. Eine heiße Nacht.
    Sie musste auch meine Laute gehört haben all die Jahre, obwohl mir dieser Gedanke noch nie zuvor gekommen war. Nun dachte ich an die Nächte der letzten Monate, wenn ich meinen neuen fremden Körper betastet hatte, mein Atem schneller wurde, ein kurzer Seufzer mir entfuhr, wenn es vorüber war. Erst jetzt musste ich daran denken, weil nun dort drüben eine Stimme zu hören war, ein Raunen, und die Stimme meiner Mutter, auch raunend. Keine Worte mehr. Nur Laute und Atem, Körper in Bewegung, das Kopfbrett des Bettes, das gegen die Wand rumste, und dann ein einziger langer Schrei wie von einem Nachtvogel, der seinen Gefährten ruft, oder einem nistenden Seetaucher, der einen Adler sichtet. Ein Notruf.
    Ich merkte, wie mein Körper ganz starr wurde, als ich diesen Laut hörte. Und so verharrte ich lange – das Baseballspiel war zu Ende, die Stimmen im Zimmer nebenan waren verstummt, ich hörte nur noch das Surren des Ventilators –, bis ich schließlich, viel zu spät, einschlief.

9
    Samstag. Ich wachte auf, weil jemand an die Haustür klopfte. Frank musste schon unten sein, denn es roch nach Kaffee, aber er konnte ja nicht zur Tür gehen, und meine Mutter schlief wahrscheinlich noch. Ich rannte im Schlafanzug runter und machte die Tür auf. Nicht ganz, nur einen Spalt.
    Evelyn, die einstige Freundin meiner Mutter, stand davor – das erste Mal seit etwa einem Jahr. Barrys Rollstuhl befand sich direkt hinter ihr auf dem Betonweg, der zum Haus führte. Man sah auf den ersten Blick, dass

Weitere Kostenlose Bücher