Der Duft des Sommers
Vater schob meine Mutter mit dem Rollstuhl auf ihr Zimmer zurück. Im Flur kamen sie an einem Paar vorbei, das mit einem neugeborenen Baby und einem Strauß Luftballons zum Aufzug ging, und an einer hochschwangeren Frau im Bademantel, die während ihrer Wehen auf und ab ging. Wie meine Mutter selbst vor kaum achtzehn Stunden wanderte diese Frau im Gang herum, um die Zeitabstände zwischen den ersten unregelmäßigen Wehen zu überbrücken. Als meine Mutter diese Frau sah, kam ihr ein verrückter Gedanke. Gebt mir noch eine Chance. Beim nächsten Mal mache ich alles richtig. Dies war das erste Mal, dass meine Mutter beim Anblick einer Schwangeren von so heftigem Zorn und solcher Trauer erfasst wurde, dass ihr der Atem stockte. Und ab jetzt tauchten überall Schwangere auf. Viel häufiger als früher, wie ihr schien.
Auf dem Parkplatz beugte sich mein Vater über den Rollstuhl,
um meine Mutter vor dem kalten Wind zu schützen. Wenn wir wieder zuhause sind, wird es dir besser gehen, Adele, sagte er.
Doch so war es nicht, obwohl mein Vater in der Zwischenzeit – in diesem Haus, in dem er nun mit Marjorie und dem kleinen Mädchen wohnte, das er mit Marjorie bekommen hatte – das Kinderzimmer ausgeräumt hatte. Babykleidung und Windelpackungen (schon seit drei Jahren dort aufbewahrt) hatte er in Kartons verpackt und die Wiege abgebaut.
Nach der ersten und auch noch nach der zweiten Fehlgeburt sprachen meine Eltern noch davon, es ein weiteres Mal zu versuchen. Auch nach der dritten gingen sie – wenn auch von einer vagen Angst verfolgt – noch zum Arzt und strichen im Kalender die fruchtbaren Zeiten meiner Mutter an.
Doch nachdem sie Fern begraben hatten, gab es keine weiteren Gespräche über Empfängnis, Schwangerschaft und Kinder.
Ihre Freunde sprachen ihr Beileid aus und bemühten sich, die beiden ins soziale Leben der Nachbarschaft einzubinden, aber nun begann meine Mutter, Grillpartys und Schulveranstaltungen zu meiden. Irgendeine Frau war immer schwanger. Auch der Supermarkt war diesbezüglich gefährlich. Umstandskleider, Babynahrung, Kinder in Einkaufswagen in Ferns Alter, Kleinkinder im Alter des zweiten verlorenen Kindes und Vierjährige, in etwa so alt wie das Kind, das im Garten begraben lag. Wo man auch hinschaute, Schwangere und Kinder wie eine Art Epidemie.
Bald wurde meiner Mutter klar, dass es gar keinen sicheren
Ort mehr für sie gab. Kinder oder Hinweise auf Kinder fanden sich überall. Man brauchte bloß das Fenster zu öffnen, dann hörte man eines schreien. Eines Abends, als meine Mutter gerade eingeschlafen war, wachte sie vom entfernten Weinen eines Babys auf, das nur ein paar Momente anhielt. Jemand musste es hochgenommen haben, Mutter oder Vater. Doch danach konnte sie nicht mehr einschlafen. Sie lag den Rest der Nacht wach und durchlebte alles noch einmal. Die Abtreibung. Die Fehlgeburten. Den Ultraschall. Den kleinen Fuß an ihrer Bauchdecke. Die verdrehte Nabelschnur. Den Blutstropfen. Das winzige Kästchen mit Asche, das man ihr überreicht hatte, kaum größer als eine Zigarettenschachtel.
Nach dieser Nacht wusste meine Mutter, dass sie das Haus nicht mehr verlassen wollte. Sie wollte auch keinen Sex mit ihrem Mann mehr, und sie wollte keine toten Babys mehr zur Welt bringen. Auch das Tanzen war ihr nicht mehr wichtig. Und nur zuhause würde sie noch sicher sein.
15
Nachmittags kamen meine Mutter und Frank wieder ins Haus. Meine Mutter ließ sich ein Bad ein. Ich war zwar immer noch wütend auf sie, rief aber, ob es irgendwas zum Mittagessen gäbe. Frank kam dann ins Wohnzimmer, nicht sie.
Wie wär’s, wenn ich uns Chow Mein mache?, sagte er. Lass deiner Mutter ein bisschen Zeit zum Ausruhen. Sie hat ziemlich geschuftet.
Ja klar, dachte ich. Ich hab euch nachts gehört. Wer hat denn dafür gesorgt, dass sie schuften muss?
Oben lief Wasser in die Wanne. Frank hatte sein Hemd ausgezogen, weil es mit Farbe bekleckert war. Sein Oberkörper war nackt. Seine Hose war so weit heruntergerutscht, dass ein Teil des Verbands von seiner Blinddarmwunde zum Vorschein kam, aber davon abgesehen hätte der Mann eine Statue sein können. Obwohl er nicht mehr jung war, hatte er einen durch und durch muskulösen Oberkörper. Wie in dem Moment, als ich Frank kennenlernte, musste ich wieder daran denken, dass man ihn sich gut als Skelett oder bei einer Sektion auf einer Bahre vorstellen konnte. Alles an ihm war Muskeln oder Knochen, nichts wurde von Fett verdeckt. Dabei sah er nicht aus wie ein
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