Der Duft des Sommers
der Mann, den ich jede Nacht nebenan hörte, wie er meine Mutter küsste. Sie tat mir leid. Er auch. Aber am meisten tat ich mir selbst leid. Ich hatte mir immer eine richtige Familie gewünscht. Nun hatte
ich zwar eine abgekriegt, aber die bestand nur aus armseligen Gestalten.
Frank legte mir die Hand auf die Schulter. Seine große raue Hand. Ich hatte gehört, wie meine Mutter nachts zu ihm sagte, dass sie ihm Lotion für seine Haut geben wolle.
Deine Haut ist so weich, hatte er gesagt. Ich wage es kaum, sie zu berühren.
Als er jetzt mit mir sprach, klang seine Stimme anders. Wir müssen auch nicht Catchen üben. Ich kann uns auch einfach was zu essen machen. Und dann setzen wir uns auf die Hintertreppe. Da ist es vielleicht kühler.
Mein Dad holt mich später ab, sagte ich.
Und ich weiß, was ihr beide machen werdet, sobald ich zur Tür raus bin.
Meine Mutter rief aus dem Badezimmer, Kannst du mir ein Handtuch bringen, Frank?
Auf Franks Gesicht lag jetzt ein Ausdruck, wie er ihn vielleicht in jenem Moment gehabt hatte, als Mandy seine Frage nach dem Vater des Babys beantwortete. Diesmal jedoch würde er niemanden so hart schubsen, dass der sich das Genick brach. Er hatte mir ja gesagt, dass er ein geduldiger Mann geworden war. Geduldig genug, um auf seine Chance zu warten, lange Jahre durchzustehen bis zu jenem Moment, als er sich schließlich auf einer Krankenstation im zweiten Stock wiederfand, in der es ein unvergittertes Fenster gab. Es würde eine Weile dauern, bis er seinen Plan vollständig ausführen konnte, aber er hatte jedenfalls damit angefangen.
Jetzt stieg er die Treppe hinauf. Jetzt öffnete er die Tür
zum Badezimmer. Jetzt stand er neben der Wanne, in der meine Mutter lag. Nackt.
Eleanor hatte mir in der Bibliothek die Telefonnummer ihres Vaters aufgeschrieben. Ich bin das ganze Wochenende da, hatte sie gesagt. Es sei denn, mein Vater kommt auf die Idee, mich ins Kino zu schleppen oder so was. Wie ich den kenne, glaubt er vermutlich, ich wäre begeistert, wenn er mit mir in Die Glücksbärchis geht.
Ich wählte die Nummer. Falls ihr Vater dran sein sollte, würde ich auflegen.
Aber sie nahm selbst ab. Ich hatte gehofft, dass du anrufen würdest, sagte sie. Welches Mädchen sagte schon so was?
Hast du Lust zu reden?, fragte ich.
16
Nachmittags zeigte das Thermometer fünfunddreißig Grad, und die Luft war stickig. In der Nachbarschaft sprengten die Leute ihren Rasen. Wir nicht. Unserer war schon lange verdorrt.
Auf die Titelseite der Zeitung hatten es heute ein Artikel über den Schwammspinner geschafft und ein Interview mit einer Frau, die eine Kampagne zur Einführung von Schuluniformen gestartet hatte, weil sie der Meinung war, dass man damit den Gruppendruck für Jugendliche reduzieren und unangemessene Kleidung in der Schule unterbinden könne. Junge Menschen sollten in der Schule über ihre Matheaufgaben nachdenken, verkündete diese Frau. Und nicht über die Beine von Mädchen, die aus einem Minirock rausgucken.
Es würde nichts ändern, wenn die Mädchen Uniformen trügen, hätte ich der gerne gesagt. Weil man ja nicht über ihre Kleider nachdenkt. Sondern über das, was drunter ist. Rachel McCann könnte spießige Sporttreter und einen knöchellangen Kilt anhaben – ich würde trotzdem an ihre Brüste denken.
Eleanor dagegen war so dünn, dass ich mir ihren Körper kaum vorstellen konnte. Auch ihre Brüste nicht, denn in der
Bibliothek hatte sie ein weites Sweatshirt angehabt (und das bei dieser Hitze).
Aber ich stellte mir vor, wie sie ohne Brille aussehen würde. Wie sie das Band aus ihren Haaren lösen würde, so dass sie ihr offen über die Schultern fielen. Ihre Brust, wenn wir uns aneinanderschmiegten, würde sich wahrscheinlich kaum anders anfühlen als meine eigene. Ich sah vor mir, wie wir unsere Nippel aneinanderlegten, als könnten wir Strom hindurchfließen lassen. Wir waren ungefähr gleich groß, und auch unsere Körper glichen einander – bis auf diesen einen Teil, in dem wir uns unterschieden.
Es gibt die Theorie, dass Mädchen Essstörungen entwickeln, um ihre Sexualität zu umgehen, hatte Eleanor mir erzählt. Manche Psychologen glauben, dass Menschen mit einer Essstörung an ihrer Kindheit festhalten wollen, weil sie sich vor der nächsten Lebensphase fürchten. Sehr dünne Mädchen kriegen zum Beispiel ihre Periode nicht. Ich weiß, dass manche Mädchen einem Jungen so was nicht erzählen würden, aber ich finde, man soll immer aufrichtig
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