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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Operationssaal und schickten meinen Vater hinaus. Sie mussten ihr den Bauch aufschneiden.
    Ich war neun, als sie mir diese Geschichte erzählte, und ich fragte sie damals, wo ich war, als das alles passierte. Bei einer Freundin von mir, sagte sie. Nicht bei Evelyn.
    Das war zu einer Zeit vor Evelyn. Als meine Mutter noch normale Freundinnen hatte.

    Danach wusste sie kaum mehr, was geschehen war. Aber sie erinnerte sich noch daran, wie jemand sagte: ein Mädchen. Also kein Junge. Ein Mädchen. Aber die Stimme hörte sich falsch an. Sie hätte fröhlich klingen müssen. Zuerst dachte meine Mutter, die Schwester glaube vielleicht, dass ein Mädchen eine Enttäuschung sei. Doch dann sah sie das Gesicht der Schwester und wusste, dass es einen anderen Grund gab.

    Ich will mein Kind haben, rief sie, aber niemand antwortete. Sie sah die grüne Haube des Arztes, der schweigend jenseits des durchsichtigen Vorhangs ihre Wunde vernähte. Dann verabreichte man ihr wohl irgendein Mittel, denn sie schlief lange. Ihre Erinnerung setzte erst wieder ein, als mein Vater ins Zimmer kam. Hauptsache, mit dir ist alles in Ordnung, sagte er, obwohl sie selbst das in diesem Moment und auch später nicht so empfand.
    Kurz nachdem sie aufgewacht war, wurde sie in einen Raum gerollt, in dem ihr Kind lag – sie hatten es Fern genannt, nach ihrer Großmutter, die schon vor langer Zeit gestorben war. Fern lag wie ein lebendes Baby in einem Babykorb, in eine rosa Flanelldecke gehüllt. Die Schwestern hatten ihr sogar eine Windel angelegt – die einzige, die sie jemals tragen würde.
    Eine der Schwestern legte meiner Mutter das Baby in die Arme. Mein Vater saß daneben auf einem Stuhl. Man ließ sie für ein paar Minuten alleine. Meine Mutter schlug die Decke auf und betrachtete den winzigen bläulichen Körper. Strich mit den Fingern über jede Rippe, blickte auf den kleinen Hautklumpen der Nabelschnur, über die ihr Kind all die Monate ernährt worden war – und die sich in den letzten Minuten verknotet und die Sauerstoffzufuhr unterbrochen hatte. Meine Mutter nahm die kleinen Hände und betrachtete die Fingernägel, überlegte, wessen Hände Fern wohl geerbt hatte (offenbar die meines Vaters. Sie hatte diese langen Finger, die ihre Eltern vielleicht später bewogen hätten, ihr Klavierunterricht geben zu lassen).
    Meine Mutter hob Ferns Beine an, die nicht mehr strampelten,
wie sie es in diesen letzten Monaten getan hatten – manchmal so heftig, dass man sogar den Abdruck eines Fußes am Bauch erkennen konnte. (Guck mal, Henry, hatte meine Mutter dann gerufen. Erinnerte ich mich nicht mehr daran? Wie ich das kleine Menschlein, das wir für meinen Bruder hielten, im Bauch hatte herumtoben sehen wie eine kleine Katze unter einer Decke?)
    Dann hatte sie Ferns Windel geöffnet. Da sie wusste, dass dies ihre letzten Momente mit ihrer Tochter waren, musste sie alles sehen.
    Die kleine Spalte der Vagina. Ein Tropfen Blut war dort zu sehen – was bei neugeborenen Mädchen aufgrund der mütterlichen Hormone nicht selten vorkam, erklärte der Arzt später –, doch beide waren bei diesem Anblick entsetzt zusammengezuckt.
    Meine Mutter prägte sich Ferns Gesicht ein in diesen wenigen Minuten, weil sie wusste, wie oft sie in kommenden Jahren an diesen Moment denken und dass sie alles dafür geben würde, ihr Kind wieder im Arm zu halten.
    Ferns Augen waren geschlossen. Sie hatte verblüffend lange dunkle Wimpern (die auf der bläulichen Haut noch dunkler wirkten). Ihre Nase war perfekt geformt, keine Babystupsnase, sondern eine winzige, ausgeprägte Nase mit geradem Rücken und zwei hübschen Nasenflügeln, durch die jedoch kein Atem floss. Ihr Mund eine Blume. Eine kleine Kerbe im Kinn, von meinem Vater geerbt, obwohl das Kinn ansonsten eher dem meiner Mutter glich.
    Unter der fast durchscheinenden Haut war eine blaue Ader sichtbar, die sich von Ferns Kinn über ihren zarten
Hals nach unten zog. Meine Mutter fuhr sie mit dem Finger nach.
    Ich war wie ein Führer auf einem Fluss, sagte sie, der einem Reisenden den Weg weist. Sie folgte der Ader über Ferns Brust bis zu dem winzigen Herzen, dessen Rhythmus sie all die Monate in sich gespürt hatte und der nun verstummt war.
    Das alles erzählte mir meine Mutter, als sei es eine Geschichte, die ihr so vertraut war wie ein auswendig gelernter Text. Dabei war ich vermutlich die einzige Person, der sie je erzählt wurde.
    Nach einer Weile kam eine Schwester und nahm Fern aus den Armen meiner Mutter. Mein

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